Die Straße nach Eden - The Other Eden
hörte nicht auf sie. Ich wusste, dass ich
meine Wahl aus demselben irrationalen Grund getroffen hatte, der mich auch dazu bewogen hatte, Nachforschungen anzustellen, deren Ergebnis mich eventuell in tiefste Verzweiflung stürzen würde. Aber jetzt war es zu spät, ich konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten, selbst wenn ich es gewollt hätte.
»Natürlich«, stimmte Mary sofort zu, dann meinte sie zögernd: »Vielleicht möchtest du das Brautkleid auch mit nach unten nehmen. Du könntest es für dich ändern lassen.«
Ich betrachtete die vergilbte, brüchige Seide, fragte mich, wie Mary nur auf eine so geschmacklose Idee hatte verfallen können und unterdrückte das ungute Gefühl, das mich beschlich. »Lieber nicht«, wehrte ich ab. »Für die Art Hochzeit, wie sie uns vorschwebt, ist es vollkommen ungeeignet.«
»Wie du meinst.« Seufzend bückte sie sich, um das rote Kleid wieder in den Koffer zurückzulegen. »Du weißt ja, wo du es findest, falls du deine Meinung änderst.«
Wir gingen wieder nach unten. Als ich Anstalten machte, mich in das Musikzimmer zurückzuziehen, hielt Mary mich zurück. »Hier ist ein Brief für dich.« Sie reichte mir den Umschlag, der neben meinem unberührten Frühstücksteller lag. »Aus Paris. Von wem kann der nur sein?«
Ohne meine Antwort abzuwarten eilte sie davon, um ihrem Tagewerk nachzugehen. Ich starrte die Absenderadresse einen Moment lang blicklos an, dann vergewisserte ich mich, dass mich niemand beobachtete, und schlitzte den Umschlag auf. Der darin enthaltene Brief war auf Englisch verfasst.
Mlle Rose, auf Ihre Anfrage bezüglich des Todes einer gewissen Elizabeth Ducoeur muss ich Ihnen leider mitteilen, dass in sämtlichen Unterlagen des Jahres 1905 keine
Frau dieses Namens aufgeführt wird, die in unserem Haus an Typhus oder einer ähnlichen Krankheit verstorben ist. Darüber hinaus habe ich mich mit den für derartige Todesfälle zuständigen Behörden in Verbindung gesetzt, doch auch dort konnte man mir keine Auskünfte geben. Ich bedauere sehr, Ihnen nicht behilflich sein zu können, und hoffe, es gelingt Ihnen, anderweitig an die von Ihnen benötigten Informationen zu gelangen.
Mit freundlichen Grüßen
Etc
Mein erster Impuls bestand darin, mit diesem Brief auf der Stelle zu Alexander zu gehen. Aber es stand genau das darin, was er mir prophezeit hatte, und nach unserem Gespräch an diesem Morgen verspürte ich wenig Lust, schon wieder ein Thema anzuschneiden, das vielleicht zu einer neuerlichen Auseinandersetzung zwischen uns führen würde. Also schob ich den Brief in den Umschlag zurück, legte ihn in meine Schreibtischschublade und vergaß ihn prompt.
4. Kapitel
W ährend der nächsten Tage beeinträchtigte keine Diskussion über Dorian oder die Zwillinge den harmonischen Frieden, der seit unserer Verlobung zwischen Alexander und mir herrschte. Dennoch wurde alles, was wir taten, von einer unterschwelligen Anspannung überschattet, dazu kam, dass ich seit dem Abend von Dorians Fest zwar nicht mehr unter Albträumen litt, des Nachts aber kaum ein Auge zutat. Noch nicht einmal das Chloralhydrat half mehr. Das Zusammenwirken von nervöser Energie und Schlaflosigkeit zermürbte mich körperlich und geistig. Die Übungsstunden am Klavier wurden mir zur Qual, und ich verbrachte von Tag zu Tag weniger Zeit damit.
Der bevorstehende Kostümball warf einen weiteren Schatten über meinen Tagesablauf. Ich fühlte mich in der hiesigen Gesellschaft unsicher und fehl am Platz, und ich fürchtete mich vor Dorians Reaktion auf die Bekanntgabe meiner Verlobung. Doch ich wagte nicht, Alexander meine Ängste anzuvertrauen; ich wollte einer neuerlichen Auseinandersetzung um jeden Preis aus dem Weg gehen.
Zwei Tage vor dem Ball saß ich im Schatten eines der mit Rosen bewachsenen Laubengänge, hatte ein aufgeschlagenes Buch im Schoß liegen, starrte ins Leere und versuchte, nicht auf die Geräusche in der Küche zu achten, wo Mary und Colette mit Vorbereitungen beschäftigt waren, als plötzlich Alexanders Stimme hinter mir erklang.
»Sag mir doch, was dich bedrückt.«
»Woher weißt du, dass mich etwas bedrückt?«
Er lächelte. »Ich sehe es dir an. Wenn du deine Gefühle
vor mir verbergen willst, musst du dir schon mehr Mühe geben.«
Ich seufzte nur.
»Dir liegt der Ball auf der Seele, nicht wahr?«
»Du kennst mich entschieden zu gut!«
»Hast du Angst davor, als Gastgeberin auftreten zu müssen?«
»Nein. Es ist nur … ich habe Dorian
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