Die Strasse ohne Ende
besiegte und wiederaufgebaute Deutschland. Ich fuhr durch das Ruhrgebiet. Es war überwältigend, Doktor. Krupp, Hoesch, Thyssen, Mannesmann, die Zechen, die Stahlwerke in Bochum, die Chemie in Leverkusen, das Volkswagenwerk. Aber was hat das mit uns zu tun?«
Ich starrte den alten Mann an, diesen vornehmen Greis mit dem Pergamentgesicht, der Deutschland kannte, mein Deutschland, das ich fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte. Als der Krieg es zerstampfte, lag ich in der Wüste bei Taudeni und baute für die Oasen neue, moderne Brunnen, die auch bei Sandstürmen nicht versanden. Nur wenig hörte ich dann von Deutschland. In Berlin sollten vier Siegermächte sitzen, das ganze Land hatte man in zwei Teile zerschnitten, der deutsche Osten war unter sowjetischer Kontrolle, ein Bruderkrieg war ausgebrochen, eine Verneinung der primitivsten Menschenrechte. Einmal – es war 1949, und ich hauste in einem Zelt bei Tamanrasset am Fuße des Hoggar – brachte eine Karawane französische Zeitungen von 1947 mit. Deutschland vor einer Hungerkatastrophe, Kinder mit Hungerödemen in den Spitälern. Die Welt war machtlos. Das große Sterben der Greise und Kinder. Und hier, hier in dieser glühenden Wüste konnte ein riesiger Garten entstehen, der die Welt ernährt. In meiner Hand allein lagen die Pläne, ich konnte zum Retter von Millionen werden.
Babaâdour erhob sich und riß mich aus meinen Gedanken. »Ich verstehe Sie nicht, Doktor«, sagte er am Ausgang des Zeltes.
»Das werden Sie auch nie, Babaâdour! Denken Sie daran, wie viele Menschen in den letzten Jahren verhungert sind, in der ganzen Welt! Und da reden Sie noch von Menschenrecht?«
»Dafür soll Afrika büßen?«
»Nein!« schrie ich. »Aber Afrika ist das einzige Land, das eine Kornkammer der Welt werden könnte!«
»Und Südamerika? Australien? Indien? Sie sind reicher als wir. Kultivieren Sie erst den Urwald, ehe Sie an die Wüste gehen.«
»Es ist leichter, Wasser zu bohren und Bäume zu pflanzen, als einen Wald von der dreifachen Größe Europas abzuholzen und aus dem Boden Ackerland zu machen.«
Babaâdour nickte leicht. »Auch darin haben Sie recht, Doktor. Aber wir sehen nicht ein, daß wir, gerade wir, heimatlos werden sollen, weil andere Völker hungern! Sie kennen unser Land – erinnern Sie sich nicht, wie in den Oasen, in den Städten, in den Bergen und Wüsten Tausende von Bettlern und armseligen Kindern leben, die ihr Leben von einer Handvoll Datteln fristen? Haben Sie vergessen, was Sie einmal sagten: ›Nie habe ich solch ein Kinderelend gesehen wie in Nordafrika‹?«
Ich sah zu Boden. Teppiche lagen auf dem Sand, wertvolle, blutrote Teppiche, fein geknüpft in den Zelten der Nomaden, gefärbt und gewaschen in den flachen Wadis der Frühlingszeit. Vom Zeltdach, an den Pfahl befestigt, hing eine handgeschmiedete kupferne Lampe.
Durch das Wunderwerk orientalischer Ornamentik geisterte der Lichtschein der Ölflamme. Unwirklich sah dies alles aus: ein dunkles Zelt, Teppiche auf Wüstensand, zwei Araberfürsten in weißen, seidenen Haikhs und ein abgerissener, schmutziger, struppiger Europäer, hohlwangig und ausgesogen von der Glut fünfzehn afrikanischer Jahre. Ich gab ihm keine Antwort mehr – wie kann man antworten, wenn man nicht weiß, was man sagen soll? Ich sah ihnen nach, wie sie durch das Lager schritten – ja, sie schritten, sie gingen nicht. Ein Araber, und sei er noch so schmutzig, schreitet wie ein König durch den Wüstensand, mit einer Majestät, die unnachahmlich ist.
Die Wächter hielten mich nicht zurück, als ich das Zelt verließ und ein paar Schritte in das Lager ging. Wo sollte ich auch hin? Flucht war so sinnlos, wie alles um mich herum sinnlos geworden war. Amar Ben Belkacem und Babaâdour sahen sich nicht um. Warum auch? Hoffte ich, daß sie mehr für mich empfanden als eine Höflichkeit, die nur so lange währt, wie sie mich brauchen?
Ich blieb stehen und setzte mich auf einen Ballen Stoff, der auf der Erde neben einem knienden Kamel lag. Die Augen des Tieres blickten mich glotzend an, unter den dicken Nüstern schoben sich die häßlichen, langen gelben Zähne hervor. In den nassen Augenwinkeln summten einige Fliegen.
Merkwürdig – ich weiß nicht mehr, was ich in diesen Stunden dachte. Es ist wie ausgelöscht in meinem Kopf. War es die Erinnerung an Berlin, der wehmütige Gedanke an Hilde, meine Schwester, war es die leise Hoffnung, von der Patrouille der Legionäre bemerkt worden zu sein? Ich weiß es nicht mehr.
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