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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Oder anders: Vielleicht machte man später Petting nur, weil man in der Bravo davon erfahren und dann jahrelang davon geträumt hatte. Jahrelang war man mit Petting in seinem Kopf herumgelaufen wie mit einer Ankündigung oder Verheißung. Manche Mädchen mögen nicht gern den Penis des Jungen anfassen. Der Junge mag gern, wenn das Mädchen seinen Penis berührt. Es kann üben, wie es dem Jungen Spaß macht. Umgekehrt darf der Junge gern komisch finden, die Vagina des Mädchens mit seinem Finger zu berühren und ihren Kitzler zu stimulieren, obgleich das dem Mädchen großen Spaß bereiten kann (aber sie darf es auch unangenehm finden) etc. So vorbereitet, würde meine Schwester Jahre später mit ihren ersten Bekanntschaften in unserem Wohnzimmer sitzen, wobei sie bereits im Wortlaut von der Bravo ausgemalt bekommen hatte, was wohl im besten Fall passieren könnte, wäre der Vater nicht anwesend (und daß sie es auch komisch oder unangenehm finden dürfte). Der Idealfall war vorbereitet von einer Doktorsprache, die für alles einen Begriff hatte. Petting war die Sehnsucht aller damals, auch wenn sie schon beim Gedanken daran ihr angewidertes Gesicht machten, das allerdings wie immerihr Lustgesicht war, ohne daß sie es wußten. Und später würden sie es ausführen, ohne zu wissen, daß sie damit dem Bravoplan folgten. Sie hielten es für ihr eigenes Verlangen und ihre eigene Welt. Und sie liefen herum und dachten jahrelang, bevor sie den ersten Schwanz in der Hand hielten, wie es wäre, den ersten Schwanz in der Hand zu halten, denn sie wußten ja von der Bravo, daß sie irgendwann den ersten Schwanz (Penis, Glied) in der Hand halten würden, wenn sie normale Mädchen sein wollten, und sie wußten, daß sie es auch gern seltsam oder eklig finden durften, den fremden Schwanz in der Hand zu halten, und daß das der Junge verstehen müsse und so weiter. Es war ein Arztgeschwätz und hieß ja auch Dr. Sommer.
    So hatte die Bravo, denke ich heute, mit meinen Eltern eine geheime Übereinkunft geschlossen. Meine Eltern wußten, daß ihnen die Bravo die eigenen Worte ersparte, mehr noch, die Bravo machte möglich, daß sie noch viel eindeutiger bei ihrer Nichtsprache bleiben konnten. Indem die Bravo redete, konnten sie um so beruhigter schweigen. Auf diese Weise kam es dazu, daß eigentlich keiner eine Sprache miteinander hatte, aber alles schon von vornherein gesagt war.
    So hatten meine Eltern ihre Sex-Gedanken im Kopf, auch wenn sie das Wort Sex dafür ursprünglich gar nicht gehabt hatten, denn das Wort war erstspäter in ihr Leben gekommen, und so hatte meine Schwester und hatten ihre Freundinnen, kaum waren sie aus der Grundschule heraus, Worte wie Petting, Penis oder Scheide im Kopf, und es kam wie von selbst zu einem völligen Ausgleich zwischen diesen beiden Sprachwelten, denn beide waren von jeher dieselbe.
    Meine Eltern dachten in Worten wie Treue und vielleicht auch immer noch Züchtigkeit oder Sauberkeit oder Anständigkeit, und ihre Töchter hatten bravogeborene Worte wie Verkehr und Stimulieren und Busen und Penis und alles Weitere im Kopf, und alle diese Worte bedeuteten dasselbe, wodurch die Distanz zwischen beiden Sprachen vollkommen aufgehoben wurde. Der Unterschied lag nur im Ausdruck. Die Nichtsprache meiner Eltern konnte vollkommen ersetzt werden durch die Arztsprache von Dr. Sommer. Hinter beiden lagen dieselben Vorstellungen, beide machten, daß alles schon vorhanden war, bevor es kommen würde, bei meinen Eltern wie bei meiner Schwester und ihrem Zug. In dem Wort anständig hatten meine Eltern bereits alles, was unanständig war, aufgehoben und wußten, wohin das alles gehen würde, oder wünschten es sich zumindest, als sie vierzehn oder fünfzehn oder sechzehn waren, und jemand wie meine Schwester brauchte dafür bereits das Wort Glied oder Scheide, auch wenn sie selbst gar nicht merkte, daß sie diese Wortegar nicht brauchte, sondern bloß den Bravoplan implementiert bekam, so wie meine Eltern durch das Anständigkeitsgebot ihrer Generation einen identischen Plan implementiert bekommen hatten.
    Dennoch mußte meine Schwester, auch wenn die Vorgängergeneration im ganzen gesehen gar nicht viel anders gewesen war als sie, alles allein erleben, wie gegen einen totalitären Widerstand der Eltern. Eigentlich war sie, wie meine Eltern einstmals gewesen waren, und genau dafür wurde sie gestraft und beaufsichtigt und verfolgt bis in ihr Tagebuch hinein, wie es bei meinen Eltern vermutlich ebenfalls

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