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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Hauses schon seit Jahrzehnten tot und lägen vielleicht immer noch in den Ecken auf dem Linolboden und verwesten vorsich hin, so daß man jederzeit eine Hand aus Knochen oder einen Totenschädel noch mit Haaren daran hätte finden können. Es war ihr Lebensgeruch. Ein Geruch aus einer anderen Welt.
    Manchmal wiesen sie ihre Frauen zurecht und schickten sie in ein anderes Zimmer, manchmal drängten sie die Frauen mit Gewalt aus ihrer Nähe, um sich dem Gast, wenn denn endlich einer wirklich eingetreten war, ungestört widmen zu können, und dann war der Moment da, die Tür geschlossen und man endlich mit ihm allein. Da steht er, der Junge, mitten im Raum, wie ein kleiner, unberührter Prinz, aufgespart für diesen Moment, und durch den Raum geht ein leises Zittern, stelle ich mir vor.
    Allerdings mußte man ein gewisses Alter erreicht haben, um Prinz zu werden. An Erstkläßlern hatten sie keinerlei Interesse. Das beliebteste Alter war zwischen neun und elf. Die Kinder wechselten in diesem Alter die Schule und waren bald fort, und neue Kinder kamen nach, hatten nun den gleichen Schulheimweg wie die anderen, wuchsen heran und waren dann auch bald in jenem Alter .
    Bemerkenswerterweise hatte ich diese Altstadtmänner völlig vergessen. Sie waren jahrelang in meinem Kopf einfach gelöscht gewesen, wie so vieles andere. Einmal sah ich einen davon wieder, da war ich schon neunzehn. Es war, wie wenn ein Schlüssel eine Tür öffnet. Oder wie ein Film, der plötzlich zulaufen beginnt. Da war dann alles plötzlich wieder da. Und auch diese Wohnungen, diese Hauseingänge und vor allem der Geruch standen wieder vor mir. Aber meine Jugend über hat das alles gar nicht existiert. Schon als ich aus dem Haus wieder herauskam, hatte es aufgehört zu existieren.

AND THE HAPPY SUMMER DAYS

D en Ausdruck in jenem Alter hörte ich damals oft, aber immer nur in Bezug auf meine Schwester und ihre Freundinnen, nicht auf mich. Sie sind jetzt in jenem Alter , sagten die Eltern, wobei etwas Spezielles gemeint war: es handelte sich um den Beginn der Bravo-Zeit.
    Mit der Bravo wurde alles anders. Gegen die nicht vorhandene Sprache ihrer Eltern und ihrer Umwelt setzten meine Schwester und ihre Freundinnen mit einem Mal die Sprache der Bravo, um den Dingen näher zu kommen. Den Dingen, von denen sie, glaube ich, immer noch nichts wußten, von denen sie aber endlich wissen wollten, weil sie es inzwischen wohl kaum mehr erwarten konnten.
    Es waren nicht ihre eigenen Worte, die sie damals lernten, aber es waren wenigstens zum ersten Mal konkrete Worte. Vielleicht sprachen sie diese Worte nicht einmal aus, aber sie konnten sie seitdem wenigstens lesen und in ihnen denken.
    Sie waren ja ohnehin immer geübt darin gewesen, in Ideen oder Vorstellungen zu denken, ohne in ihnen zu sprechen. Schon bei ihren Doktorspielen noch wenige Jahre zuvor hatten sie ja nicht gesagt,dies ist mein Arsch, und nun stecke deinen Finger hinein, aber sie zeigten ihren Arsch und steckten ihre Finger hinein oder wollten sie dort hineingesteckt haben. Und sie steckten auch in alles andere ihre Finger oder wollten, daß man dort den Finger hineinsteckt, aber wenn sie davon sprachen, gab es nur vorne und hinten und höchstens noch ein, zwei Kindersprachenbegriffe dafür, alles Weitere blieb allgemein und hatte noch keinen eigenen Wortlaut.
    Nun, als sie zwölf, dreizehn Jahre alt waren, gab ihnen die Bravo ihre Sprache. Es war von Anfang an eine Fachsprache. Ihre wichtigsten und geheimsten Gespräche führten sie ab da mit der Bravo. Es waren für sie Worte wie Abenteuer, man wagt kaum, sie zu denken, und sie verheißen eine große Welt, eigentlich überhaupt erst die Welt, und vor allem verheißen sie das Verbotene und das Geheimnis hinter dem Verbotenen. So standen sie, stelle ich mir vor, nun vor der Welt mit ihren Worten im Kopf, die sie nicht sprachen, und betrachteten diese Welt und maßen an ihr ihre unausgesprochenen Worte ab, und selbst noch die Stimme in ihrem Inneren scheute vor dem Denken der Worte zurück, was den Reiz aber nur um so stärker werden ließ.
    Worte, die für die Zwölf-, Dreizehnjährigen damals eigentlicher waren als alles andere. Petting . Jahre bevor man Petting machte, las man in der Bravo, wie man Petting macht. Beziehungsweise daß manüberhaupt Petting macht. Petting, ein Wort, das sie bis dahin noch nie gehört hatten und das ihre Welt sofort veränderte und auf einen einzigen Punkt hin orientierte und fixierte, kaum hatten sie es gehört.

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