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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wiederholt, ich schaute ihr dabei in die Augen, einen Moment später schickte sie mich vor die Tür und zur Direktorin. Der Saal johlte (vielleicht hielten einige mich für einen Heroen). Meine Mutter wurde angerufen. Sie erschien nach einer Viertelstunde, und während die Direktorin meine Mutter über den Sachverhalt aufklärte, wurde ich vor die Tür geschickt. Offenbar sollte ich nicht hören, was vorgefallen war bzw. was ich gesagt hatte. Meiner Erinnerung nach wurde ich nicht einmal gefragt, wie ich zu alldem komme. Sie werden hinter der Tür schwerwiegende Gespräche geführt haben. Warum ich denn auf so etwas verfalle und wohin denn insgesamt meine Entwicklung gehe, wenn ich jetzt schon auf diese Weise, und auch noch öffentlich, und vor allen anderen, und woher ich das denn überhaupt habe, denn irgendwohermuß es ja kommen, es kommt ja nicht von allein! Mit wem hat er denn Umgang, mit wem verkehrt er so? Ist er sonst schon in dieser Weise auffällig gewesen? Und so weiter. Ich war hinter der Tür plötzlich ein miserabel sozialisiertes und durch zu frühzeitiges Sexualvokabular bereits auffälliges, also grundverdorbenes Kind, und meine Mutter kam mit einer Miene aus der Tür heraus, die besagte: Was habe ich um Gottes willen falsch gemacht, und für was bestraft mich der liebe Gott mit diesem Kind so hart? Alle gingen davon aus, daß das, was ich getan (gesagt, skandiert) hatte, das war, was sie meinten, und daß ich das auch meinte. Deshalb wurde kein Wort darüber gesprochen, und ich wurde über gar nichts aufgeklärt und verstand nichts. Ich selbst konnte es lediglich darauf schieben, daß ich vermutlich doch zu laut und zu auffällig vor mich hin gesprochen hatte in meiner Worterkundung. Ich wurde mit einem Tadel nach Hause geschickt, meine Mutter war die achthundert Meter von unserem Haus im Mühlweg zur Schule wie immer mit ihrem Automobil gefahren, jetzt saß ich im Fond des Wagens und sagte, wenn man das Wort Tuff rückwärts ausspricht, heißt es übrigens Futt. Meine Mutter, mit der ich doch höchstens vor einem halben Tag über Tuffstein und die Vulkansendung gesprochen hatte, zischte nur: Jetzt sei aber wirklich endlich still.
    So war alles bereits vorhanden, obgleich es nochgar nicht da war. Die Welt hatte sich in vorn und hinten und die einen und die anderen geteilt, aber ich hatte immer noch keine Anschauung (die eben geschilderte Szene sollte ich erst Jahre später verstehen), ich hatte auch noch kaum Worte, abgesehen von den Worten des Jungen namens Göttlich. In dem Wort Ficken, das auf jeden Fall noch meiner Urgroßmutter im Mund gelegen hatte, in anderem Zusammenhang, klang eine Ursemantik von Reiben oder Zwicken herauf, die ich für den eigentlichen Gehalt des Wortes hielt und von der aus ich nicht den Übertrag machen konnte auf jenes Stecksystem, das uns zugrunde lag und offenbar der Schlüssel zu dieser anderen Welt war. Eine Welt hinter der Welt wie die Alicewunderwelt aus dem Film, auch wenn sie diese Welt vielleicht nur träumte im Spiegelbild ihres englischen Teichs.
    Auch unsere Altstadt, in der meine Grundschule lag, war Teil dieser anderen Welt, wie ich mit fortlaufenden Jahren erfuhr. Wobei es sich natürlich niemals um Männer in irgendwelchen dunklen oder langen Mänteln handelte und auch nie um welche, die auf Parkbänken lauerten oder hinter Büschen hervorsprangen. Sie sahen nicht aus wie Gert Fröbe im schwarzen Rock. Es waren im Grunde genommen eher Männer wie unsere Nachbarn, wie Herr Rubin oder Herr Eiler, zumindest sahen sie nicht viel anders aus. Sie kamen genau dann, wenn wirvon der Schule durch die Altstadt Richtung Stadtkirche liefen (allein oder mit jemandem zusammen, den Ranzen auf dem Rücken und vielleicht den Turnbeutel in der Hand), aus ihren Fachwerkhäuschen heraus, als hätten sie es geradezu abgepaßt, genau dann herauszukommen, wenn wir vorbeiliefen. Plötzlich ging die Tür des kleinen Häuschens auf, etwa so wie beim Hexenhaus im Märchen von Hänsel und Gretel, und aus der Holztür, die schon beim Anschauen muffig roch, trat einer dieser alten, farblos gekleideten Männer, manchmal mit kleinem Hut. Dann sprachen sie uns an.
    Ich fand es in der Altstadt immer eigenartig, daß man als Bewohner gleich auf der Straße stand, wenn man aus der Haustür trat. Meist gab es nicht einmal ein Trottoir, so eng konnten dort die Gassen gebaut sein. Bei uns im Barbaraviertel brauchte man von unserer Haustür bis zur Straße mindestens zwanzig Meter. Um den

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