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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auch tatsächlich da seien und nicht irgendwo anders auf unbekanntem bzw. unbeaufsichtigtem Gelände. (Manche riefen auch einfach an: Sagen Sie, ist unsere Tochter eigentlich gerade bei Ihnen? Aber sicherer war doch, gleich vor Ort zu überprüfen, ob sie auch wirklich da war.) Manchmal sah man die Eltern im Wagen über die Kaiserstraße oder sonst irgendwo fahren, dann hielt der Wagen, sie stiegen aus und betraten irgendeinen Laden oder irgendein Eiscafé oder sonst irgendeine Örtlichkeit, um zu schauen, ob die vermißten Mädchen dort seien, vielleicht war es sogar schon eine Bierwirtschaft. Die Mädchen rauchten ja verbotenerweise auch schon längst. Auffällig war, daß nun in erster Linie die Väter die Töchter zu deren Verabredungen brachten und von dort wieder abholten, obgleich es doch während der Kindheit stets eher die Mütter gewesen waren. Das hochmütige, verschlossene Gesicht der Mädchen und ihr Schlafzimmerblick, mit dem sie neuerdings so eigenständig in die Welt hinaussahen, standen natürlich in größtmöglichem Widerspruch zu der Tatsache, daß sie überallhin gegen ihren Willen eskortiert und wieder abgeholt wurden, und die Begleitung durch die Eltern wurde ihnen immer peinlicher.
    Streitigkeiten entstanden ebenfalls hinsichtlich ihrer Kleidung. Eben noch war ihnen die Kleidung von der Mutter oder Großmutter gekauft oder von der Tante zum Geburtstag, zu Weihnachten oder zum Namenstag geschenkt worden, Socken, Wäsche, oder sie hatten die abgelegte Kleidung des älteren Geschwisters getragen; nun hatten sie plötzlich die Vision eigener, ganz bestimmter, unbedingt notwendiger Kleidungsstücke im Kopf, die immer mit einer ganz bestimmten Bedeutung versehen waren, die nur ihnen bzw. ihrer Gruppe ersichtlich war. Der Wunsch nach diesen Kleidungsstücken war so stark, daß er etwas Unkontrollierbarem glich, er kam wie eine Welle über sie, der sie nicht ausweichen konnten oder gar nicht wollten, und diese Welle schrieb den gleichen Rausch in ihr Gesicht, den ich noch von früher kannte, wenn sie in der anderen Welt gewesen waren. Offenbar gehörte der Wunsch nach diesen Kleidungsstücken auch in die andere Welt und zeigte daher dieselbe Wirkung: er mußte unbedingt gestillt werden, und erst danach konnten wieder Ruhe und Frieden in ihnen herrschen. Genauso war es nun auch mit ihren Verabredungen. Wenn man ihnen früher eine Verabredung, aus welchen Gründen auch immer, untersagt hatte, dann hatten sie zwar geheult und waren todunglücklich gewesen, aber hatten dennoch alles bald wieder vergessen, denn das Unglück hatte nur für den Moment gegolten. Wenn die Eltern sie nun, mit vierzehn, fünfzehn, nicht zu einer Verabredung ließen, dann wich die Unruhe nicht aus ihnen, sie sannen die ganze Zeit darüber nach, wie sie doch noch, und auf welchen Wegen, zu der besagten Verabredung kommen könnten, etwa zur Disco im Festzelt beim Herbstmarkt auf der Friedberger Seewiese. Und waren sie dann irgendwie durch einen Trick entwischt, standen die Eltern bald im Festzelt auf der Seewiese unter all den Vierzehn-, Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen, die gerade zu Love is in the air oder Gimme gimme gimme auf der Bühne tanzten, auf der eine Stunde zuvor noch die Blaskapelle gespielt hatte. Die Mädchen trugen einen Blazer, manche ein Sakko ihres Bruders, und einige von ihnen (die Wagemutigeren) hatten Kajal aufgelegt. Die Eltern transportierten die Mädchen aus dem Zelt heraus, ohrfeigten sie meist erst draußen, da sie es im Zelt nicht wagten (es hätte zu Zusammenrottungen kommen können), und die Kajalmädchen hörten sich die nächsten Tage an, daß sie wie Nutten, wie Flittchen ausgesehen hätten, daß die Eltern gar nicht wüßten, wieso sie neuerdings eine Nutte und ein Flittchen zur Tochter hätten, ob ihre Freundinnen auch alle wie Nutten und Flittchen herumliefen, warte, dir werden wir den Umgang verbieten, und so weiter …, und anschließend versuchten sie die betreffenden Töchter für ein, zwei Wochen nochstrenger zu verwahren als sonst. Regelmäßig brachen diese aber schon nach zwei oder drei Tagen wieder aus und standen dann rauchend vor der Telefonzelle bei unserem Metzger Blum, wo sie sich meistens in den Frühabendstunden trafen.
    Je mehr sie in die andere Richtung gingen, also in Richtung der anderen Welt, desto rigider reagierten die Eltern, was zeigte, daß die Eltern mindestens ebenso grundlegend nicht von dieser, sondern von der anderen Welt waren bzw. diese für sie ebenfalls

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