Die Straße - Roman
geschehen war. Und die Eltern atmeten auf, weil die Bravo ihnen jetzt alles abnahm, auch wenn sie das niemals zugegeben hätten. Nein, sie schimpften auf das Magazin, das weiß ich noch. Sie nannten es obszön und ekelhaft und gefährdend, aber der Kauf wurde in stillschweigendem Einverständnis geduldet.
Das Tagebuch war ebenso Mode wie die Bravo. Und die Freundinnen meiner Schwester hatten damals ein großes Mitteilungsbedürfnis. Alle schrieben dieselben Texte und zeigten sich diese anschließend gegenseitig. Diese Texte bestanden aus wenigen, immer wieder neu kombinierten Textbausteinen, und der Einfachheit der Textbausteine entsprach die Simplizität der erlebten Welt, denn es war im Grunde auch bloß die Bravowelt, nun außerhalb des Heftesreproduziert. Sie erlebten damals alle ihren Bravofotoroman in der Wetterau. Auch in Zukunft, wenn sie die Bravo vielleicht schon nicht mehr lesen würden, weil sie inzwischen älter geworden waren, würden sie doch auf das genaueste von der Bravo prästrukturiert sein für alles Kommende und würden in allem Kommenden auch immer nur detailgetreu die Bravowelt wiedererkennen, denn andere Begriffe hatten sie ja nicht, und andere Erzählungen auch nicht, und andere Techniken auch nicht. In jedem Sommer steckte seitdem Dr. Sommer. Also schrieben sie ihre Geheimnisse in ihre Tagebücher und zeigten die Geheimnisse dann überall herum, sie wurden älter, und die Geheimnisse waren GIs und hießen John oder Tim oder Kevin oder Bruce, und nachts lagen die Brüste wie verramscht unter der Decke, wo sie, der Bravosehnsucht nach, natürlich nicht hätten liegen sollen. Sie nannten es lieben oder verliebt sein oder toll finden oder süß finden , und weil ich jünger war als sie und als Geheimnisträger infrage kam, mit dem man gefahrlos seine innersten Wunschvorstellungen teilen konnte, die zum totalen öffentlichen Abundieren neigten, zeigten sie mir ihre Tagebucheinträge, lasen sich diese in meiner Anwesenheit vor und schwärmten von ihrem Bruce und Tim und Kevin und John, und daß sie nachts deshalb angeblich nicht schlafen konnten, wußte ich inzwischen auch. Und aus solchen Textbausteinen bestand ihre Welt.
Ganz eklig und faszinierend war, wenn ein Magazin auftauchte, in dem dann auch tatsächlich ein Glied oder ein Penis zu sehen war. Dann war ein Lärm und Gegacker wie in einem Hühnerhaufen, und das Heft mit dem Glied wanderte von Hand zu Hand, und allen kam es verboten und herrlich vor und setzte ihnen gleich ein noch viel größeres Verlangen nach Freiheit und Erfüllung und einem ganz anderen Leben in die Brust. Das war alles noch ein Jahrzehnt vor dem deutschen Privatfernsehen.
Der Ekel ist der Beginn der Lust, das konnte man an ihnen studieren, denen die Augen übergingen vor dem Glied oder Penis auf dem Papier, das bedruckt worden war in irgendeiner Druckerei irgendwo in Deutschland und von da über Tausende von Straßen in die ganze Republik verteilt wurde und auch nach Friedberg in die Wetterau kam, und nun schlugen sie das Heft wie ein neues Abenteuer auf, sahen den Penis und verzogen das Gesicht und schlugen das Heft wieder zu, um es anschließend wieder aufzuschlagen und ihren Freundinnen zu zeigen, die ebenfalls das Gesicht verzogen und anschließend mit der Heftseite im Kopf herumliefen und nicht mehr wußten wohin damit vor begeistertem Ekel. So hatte jede Woche einen neuen Erlebnisschock, und in Hamburg oder München oder sonst irgendwo saßen sie in ihren Redaktionen und planten das nächste Heft und das nächste Großerlebnis für die Kunden. Unddie Bravo plante die nächste Dr.-Sommer-Seite, sie schossen die nächsten Fotos und gaben das Heft dann an die Druckerei, die es an die Speditionen gab, und so pulsierte die Bravo und pulsierten die anderen Magazine auf allen Bundesstraßen dieser Republik bis zu den abertausend Kiosks, auch über unsere B3 bis hin nach Friedberg und dort ins Barbaraviertel in die Gebrüder-Lang-Straße zu Herrn Beckers kleinem Edeka-Laden zwei Straßenecken weiter von uns, und schließlich wurde ein Wetterauer Mädchenleben daraus, ganz am Ende der Kette, wo nur noch Träume blieben, ziellose und vorerst unerfüllbare Träume vom Popstar über Petting bis hin zum Glied und der Scheide, und man anschließend 1 Mark 30 weniger in der Tasche hatte.
War der Penis in die Höhe gerichtet, war das Porno, das ging nicht, und schon gar nicht in der Bravo, wo der Penis bildtechnisch noch gar nicht Einzug gehalten hatte. Das Wort Porno
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