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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schriftsteller, den ich kannte, aber so weit sind wir noch nicht. Einige Jahre vorher, noch zur Fußballzeit, war H. dennoch bereits durch seine Andersheit, durch sein Nichtfunktionieren im gewöhnlichen Rahmen, durch seine Eigenwilligkeit und seinen für andere eher zwanghaften Charakter stigmatisiert bzw. erkennbar.
    Auch mit seinem Vater, dem gebrochenen, konnteich besser umgehen als mit anderen. Andere Väter kamen immer mit großem Schwung und großer Selbstsicherheit daher und integrierten mich sofort in irgend etwas, in ein Gespräch, das dann eigentlich nur sie führten, oder sie wollten, daß ich etwas erzähle, wobei ich immer merkte, daß sie gerade nur die typische Begegnung »Vater unterhält sich mit Freund des Sohnes« spielten. Sie waren immer aufgeräumt, gut gelaunt, frisch, und ich dachte stets: leben die wirklich so, und wie anstrengend ist das, sich immer da oben zu halten? Bei H.s Vater war das völlig anders, der machte sogar dann einen armseligen Eindruck, wenn er sich nur einen Kaffee in der Küche kochen wollte. Er stand verloren in der Küche herum, die Küche starrte ihn an wie etwas Fremdes, das gar nicht hierher gehörte (es war sein eigenes Haus, er hatte die Küche selbst einrichten lassen), und die Handgriffe, die er vollführte, mißlangen im Regelfall allesamt. Er war wohl um die vierzig, so alt wie ich heute, und ich war im sechsten Schuljahr und dachte, ich müßte diesem Mann helfen, wir müßten ihn irgendwie aufrichten. Zumindest freundlich zu ihm sein, sonst verzweifelt er ja immer mehr. Wobei ich nach dem Grund dieser Verzweiflung oder zumindest dieses Gebrochenseins nie fragte, ich nahm es einfach hin, als einen zu der Person gehörigen Teil, als etwas, was die Person geradezu ausmachte bzw. ihr sogar einen gewissenWert verlieh, durch den sie sich von anderen absetzte. Ich sage nicht, daß mir das damals schon ganz und gar bewußt war. Aber spüren konnte ich es auf jeden Fall.
    H.s Mutter sah ich weitaus seltener. Manchmal erschien sie im Schlafkleid, mit einem durchsichtigen Morgenmantel darüber. Sie war ebenso schlank wie ihr Sohn, schön, mit dunkler Alexandra-Stimme, und wirkte nicht gebrochen. Je aufrechter sie durchs Haus lief, desto mehr duckte sich ihr Mann, kam mir vor. Heute sehe ich natürlich die tausendfach kolportierte Siebziger-Jahre-Scheidungskrieg-Szenerie inklusive Kind vor mir, die man aus unzähligen Romanen und Filmen kennt, aber damals hatte ich zum einen keinerlei Begriff dafür, und zum anderen nahm ich alles unmittelbar wahr, ungefiltert durch Worte und Ideen. Auch wenn alles traurig war, so war es ja doch nicht falsch. Nicht falscher als alles andere um mich herum. Nur funktionierte es nicht. Das hob es so heraus. Bei den anderen Familien dagegen schien alles unhinterfragt und nach gewissen Regeln, die ich nicht kannte, vonstatten zu gehen, und diese Familien schlossen sich zu etwas Einheitlichem, Festem, Mächtigem zusammen, das einfach so in die Welt gesetzt war und nun vor sich hin funktionierte, ohne daß die Personen in ihnen noch Personen gewesen wären. Alle waren in diesen Familien eher wie Teilnehmer an einem Spiel odereinem Theaterstück, es gab feste Rollen, und jeder konnte sich in seiner Rolle ganz natürlich bewegen und hatte Spaß und Freude an dieser Rolle. Sie lachten viel, sie machten viel gemeinsam, sie stritten auch, das gehörte ebenfalls dazu, aber sie waren immer wie am Schweben, sie folgten einer mir unergründlichen Melodie, wie die Schlange beim Tanz, oder einer Stimme, die ihnen das alles vorgab, und auch wenn mich das nicht mehr so sehr quälte wie in den ersten zehn, elf Jahren meines Lebens, so war mir diese anscheinend naturhafte Fähigkeit zum Zusammenstecken doch nach wie vor völlig fremd.
    Ich kann im Nachhinein keinen Punkt in meinem Leben bestimmen, an dem so etwas wie »Nachdenken über die natürlichen anderen« eingesetzt hätte. Aber es gibt Erlebnisse, Bilder, in denen diese »Natürlichkeit« (was immer ein Wort der anderen war) so stark zum Ausdruck kam, daß ich mich an einzelne erinnern kann, die teils sehr weit zurückliegen. Dazu gehörte, wenn sich die anderen Kinder auszogen, etwa bei diversen Gartenspielen im Sommer. Sie waren naß geworden und wechselten ihre Kleidung. Dabei lag nichts im Raum. Sie taten es einfach so. Sie schauten sich nicht auf ihre Schwänze wie früher zur Grundschulzeit in der Schultoilette, sondern verhielten sich so routiniert wie beim Duschen nach dem Fußballtraining.

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