Die Straße - Roman
Sich-ins-Bett-Legen mit dem eigenen Sohn, manche Mütter zogen dafür eigens ein Nachthemd an, stufenweise aufknöpfbar. Das war dann die Liebe der Mutter zum Kind, und die Kinder waren fünf oder sieben oder neun oder elf, und auch für sie war es ebenfalls (zumindest zunächst) ganz normal. Später wissen sie dann für Jahrzehnte nicht mehr, daß sie mit ihren Müttern im Bett gelegen haben ihre halbe Kindheit lang, und was sie da genau gemacht haben, wissen sie auch nicht mehr (ich weiß es ebenfalls nicht mehr, es wird an diesem Punkt immer schwarz in meiner Erinnerung), und dann ist es plötzlich wieder da, und die Erwachsengewordenen heben inzwischen die Freundinnen ihrer Töchter auf den eigenen Schoß oder stehen plötzlich ebenso vor sich selbst und der eigenen Existenz wie damals schon der junge H., der, noch ohne Begriffe zu haben, bereits alles wußte und bei dem in der Familie eine solche Unnormalität herrschte, daß auch seiner schönen Mutter klargewesen wäre, was es bedeutet, wenn sie sich mit ihrem Sohn ins Bett legen würde. Ob sie es gerade deshalb dann doch getan haben, also bewußt und vielleicht sogar in gemeinsamerVerabredung, kann ich nicht sagen. So kann ein Leben ja auch sein.
Ich ahnte zunächst noch nicht einmal, daß Jungen und Mädchen sich überhaupt voneinander unterscheiden. Am Anfang ist alles eins, die Verschiedenheit kommt erst später, dann ist das Paradies bereits verloren. In meinem zweiten Schuljahr, noch in der Zeit meiner großen Verängstigung und längere Zeit vor meiner ersten weiblichen Schulbanknachbarin Manuela, hatte es mir ein Klassenkamerad gesagt. Ich kann mich an die Situation recht genau erinnern, vielleicht auch deshalb, weil es einer der wenigen Momente in der Grundschule war, in denen es einem Mitschüler unbedingt wichtig erschien, mir etwas mitzuteilen. Ich habe mich meine ganze Grundschulzeit über stets eher an Mädchen gehalten, vielleicht weil ich mich da weniger bedroht fühlte. Bettina, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, war überhaupt mein einziger näherer Kontakt. Einmal müssen wir irgend etwas miteinander gemacht haben, vielleicht ein Spiel gespielt, oder ich half ihr bei etwas im Klassensaal oder in der Pause, keine Ahnung. Es muß irgendeine Berührung im Spiel gewesen sein. Unter Jungen üblich, unter Mädchen auch. Vielleicht rangelte sie mit mir, oder wir miteinander (kann ich mir aber nicht vorstellen, dazu neigte ich überhaupt nicht). Auf jeden Fall kam danach ein Mitschüler auf mich zu, schaute mich zunächsteinverständnisheischend, dann aber abmessend an und sagte so etwas wie: Du weißt aber schon, daß die Bettina ganz anders ist als du? Ich verstand die Frage nicht (ich wußte nicht, worauf er aus war), und anschließend folgte die Aufklärung, nämlich daß sie ein Mädchen sei und ich ein Junge und daß Mädchen eben anders seien als Jungen. Daß, wenn die Bettina sich ausziehe, sie anders aussehe als ich.
Damit gab es für mich zum ersten Mal zwei Geschlechter. Allerdings gab es für diese zwei Geschlechter zunächst nur zwei Protagonisten, nämlich jene Bettina und mich, obgleich ich nicht wußte, inwiefern sie anders aussah als ich. Unsere Berührung oder diese zufällige Handlung zwischen uns war in den Augen meines Mitschülers eine Lusthandlung oder eine Vorstufe dazu gewesen, und als er begriff, daß das offenbar gar nicht der Fall war, mußte er sie im nachhinein zu einer solchen machen, und zwar indem er mich über die Welt zum ersten Mal ganz grundlegend aufklärte. Also in dem für ihn ganz grundlegenden Sinne. Der Junge hieß übrigens mit Nachnamen Göttlich. So machte er seinem Namen alle Ehre damals in der zweiten Klasse und wies mich auf die Schöpfung hin, von der ich bislang nur aus der Bibel wußte, also kurz gesagt von Adam und der aus seiner Rippe geschaffenen Eva, deren einziger Unterschied zu Adam für mich bis dato immer gewesen war, daßsie aus seiner Rippe kam und er gleich von Gott, was ich allerdings nie richtig verstanden hatte und worunter ich mir eigentlich auch nichts vorstellen konnte. Mit diesem Jungen namens Göttlich gab es also zum ersten Mal das antagonistische Paar Bettina – Andreas auf der Welt bzw. in meinem Kopf, und daraus wurden dann später sämtliche Begriffe, die ich habe. Der Anfang des Unterschieds und damit aller späteren Liebe und allen Schmerzes war, daß jene Bettina anders war als ich und ich nicht wußte, inwieweit sie anders war. Und daß, um es zu erfahren, sie sich
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