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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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nach einer halben Stunde wieder zum Bahnhof auf. Er rechnete genau mit der Möglichkeit, daß der Pariser Zug immerhin die Hälfte seiner Verspätung etwa noch könnte einholen, dies als Maximum angenommen. Aus den Straßen hatte die Sonne sich bereits zurückgezogen. Ein maßvoll warmer Sommer-Abend ergraute. Die Verspätung des Zuges erwies sich als unvermindert. Nach zwanzig Minuten Auf- und Abgehens in der kleinen Wartehalle wurden die Tore des Perrons neuerlich geöffnet.

    Das Paar ward begünstigt. Die unwägbaren Umstände fügten sich: und das vom ersten Augenblicke an, als sie auf dem Perron in seinen Armen gelegen war – für ihn wie eine Wolke, aus der es blitzte, eine barocke Wolke mit kugligen Wölbungen, welche seine hochgespannte Empfindung aus ihrer schmalen, an ihn geschmiegten Gestalt trieb und übertrieb, hinter jeder Stelle der Berührung eine Strahlenkrone hervorschießen lassend. »Daß ich dich nur wieder habe«, sagte sie, die Arme um seinen Hals. Ein Automobil fand sich; nach kaum gewußter Fahrt jeder den andern als immerwährende Explosion neben sich im Fond des Wagens, ein Geschehendes, keine seiende Person – nach solcher Fahrt mit einzelnen durcheinan der geworfenen halben Worten stieg der Lift durch das Stiegenhaus mit den sinnlosen Quasten und Schnüren (und erstaunlicher Weise hatte man kein Gepäckstück vergessen, sie waren alle da), bis zur sommerlich leeren Siebenschein'schen Wohnung, denn auch die Alten hatten sich ein paar Wochen auf dem Lande gegönnt und weilten zu Goisern im Steirischen, von wo sie allerdings morgen, am Samstag-Nachmittage, zurück zu erwarten waren.
    Die flachen Koffer standen in einer Ecke von Gretes Zimmer uneröffnet, die Kleider lagen auf dem Teppich, und zarte Wäsche war vom Stuhle herab auf Renés Schuhe geglitten. Aber dies war keine losgerissen taumelnde Gondel, dies war ein Schiff mit einem Kurs, dessen zahlreiche Faktoren, aus denen er schließlich hervorging, ihn komplizierten. Solches wußte René ganz außer Zweifel. Die Dunkelheiten des Zimmers, das um die bunte, gedämpfte Lampe am breiten Bett längst traulich zusammengerückt war, sprachen es fast ebenso aus wie die Schattenbuchten am Körper der Geliebten, verstreute Teile von dem Kern- und Zentralschatten, der ein Tor war und Torweg: womit denn dies alles irgendwohin führte. Die Vergangenheit nicht nur drängte sich zusammen und verbarg sich unter der kleinsten Einzelheit, auch die Zukunft staute heran und spannte alles von inwärts, und so, doppelt geladen, erhielt und enthielt jeder Augenblick erhöhtes Gewicht und bedrängende ja beängstigende Fülle, die fast stumm, kaum flüsternd, nach Deutung rief.
    Am folgenden Samstage, der ein besseres und windstilles spätsommerliches Wetter heraufbrachte (wenn man die Gasse hinab zum Donau-Kanal blickte und über diesen hin, flog einem eine Ahnung des herankommenden Herbstes noch ganz ohne dessen sichtbare Zeichen an die Brust, vielleicht aus der Luft allein, aus dem Hall fernen Straßenlärms, aus dem Himmel zwischen den Dachkanten der Häuser) – an diesem Samstag-Vormittage war Grete Siebenschein damit beschäftigt, die Wohnung im nötigsten für den Empfang der Eltern bereit zu machen, das Schlafzimmer durchzulüften – und hier sprang also zuerst das Tageslicht herein, die Geräusche von der Straße, rasteten die Fenster-Riegel schnappend ein, schwebten die Stäubchen im Sonnenlichte – die Betten zu überziehen, den feinen kühlen Staub zu stören, der sich da und dort niedergelassen hatte, den Sauger in Gang zu setzen und ihn über den entrollten Teppich zu führen. Stangeler half ihr bei alledem und stand lange am ehelichen Lager des Hauses, mit großen Flächen weißer Wäsche fuchtelnd, worüber Grete von einem Gelächter in's andere fiel. Sie trug ein seidenes Kopftuch und Schürze. Ihr Körper, ohnehin der einer falschen Mageren, schien während des Aufenthaltes in Frankreich dasjenige, was er so im einzelnen zu sagen hatte, noch etwas mehr unterstrichen zu haben, wenigstens kamen seine Edikte solchermaßen heraus unter dem dünnen Hauskleide; und vielleicht war sie über den Sommer, nach allen Aufregungen vorausgegangener Monate, wirklich wieder etwas voller geworden. Sie entschlossen sich, auch das Speisezimmer in Stand zu setzen und so der aufhellenden und aufspaltenden Tätigkeit der für nächste Woche zu erwartenden Haushaltsorgane noch um einen Raum weiter vorzugreifen. Von hier war's, daß man die Gasse zum Kanal

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