Die Strudlhofstiege
Von Haupt ging, bei aller Gutmütigkeit, zugleich eine Strenge aus, die einen noch jungen Menschen wie René zur Opposition reizen und tief auf rühren konnte, weil sie sich nie exponierte, ohne jedes Risiko blieb, die Klinge nicht bot, oder die vorgestreckte alsbald wieder zurückzog. Kurz: Stangeler hätte, bei allem Respekte vor Haupts Person, diesem zu sagen gehabt, daß jeder Standpunkt, selbst einer vom geringsten Werte, zur Dialektik mit all' ihren Einzelheiten bereits verpflichte. Aber wo war René mit seinen langen Ohren, und wo war solch eine akademische Sentenz! Er glitt von Haupt einfach ab. Er erlahmte. Er fühlte sich plötzlich sehr müde, ja geradezu schläfrig. Und man könnte eine solche vom Baurat Haupt ausgeübte Wirkung am Ende auch als einen biologischen Effekt der Selbstverteidigung ansehen, wie die Trübung des Wassers durch den Tintenfisch. Jedenfalls war diese Mechanik den Kräften eines René Stangeler unfaßbar weit überlegen und kämpfte ihn nieder, ohne daß dabei ein einziger Schritt getan, ein Gegensatz zur Spannung gediehen, ein Gedanke verschwendet worden wäre.
Immerhin, René wurde nach Fraunholzer gefragt, ob der draußen schon erschienen sei, oder ob man wisse, wann er kommen würde? Auf beide Fragen konnte Stangeler nur mit einem einfachen ›Nein‹ antworten, was ihn gewissermaßen ernüchterte. So erzählte er denn, daß Asta dem Generalkonsul geschrieben habe; aber das war Haupt längst geläufig; übrigens schien es ganz unmöglich ihm anzusehen, ob er nun damit einverstanden sei oder nicht. Vielleicht lehnte er auch dies ab. Jetzt erst, unter der Macht zunehmender Schlafsucht – die dem René in ganz paradoxer Weise nun schon wie ein betäubendes Gift von Haupt auszugehen schien – ließ ein Andrang bei ihm nach, der bisher von innen ständig sich im redenden Munde gestaut hatte; und gerade dem unbedingt zu widerstehen, bildete gleichsam einen letzten Halt und Rückhalt für Stangeler, dessen Zipfel er mit Anstrengung festhielt, bis die Müdigkeit auch diese Lage löste; und so empfahl er sich von seinem Schwager, ohne ihm von dem heutigen Erlebnis am Westbahnhofe irgendetwas erzählt zu haben (was sich hatte nahe legen, ja aufdrängen wollen unter dem Vorwand, bei diesem ruhigen und, wie es schien, durch und durch geordneten Manne sich etwa Rat zu holen, was jenem Phänomen gegenüber zu tun sei und wie man sich da am besten zu verhalten habe?!). Er behielt's also für sich, ja ihm war, als behielte er damit sich selbst in der Hand, sonderbar genug, mit jenen gedoppelten Damen, die ihn nichts angingen und deren unleugbare Tatsächlichkeit sich noch immer in wechselndem Lichte wandte, einmal zum Läppischen, einmal zum Wichtigen hin. Plötzlich auch schoß bei ihm eine Erinnerung ein, wie ein kleiner Meteorit des Geistes: er sah den Stauweiher draußen bei der Villa und sich selbst daneben sitzen auf dem Sandhaufen, während Geyrenhoff vor ihm stand in crèmefarbenen Tennishosen. Ein Duft des Lavendels. Aber von der großen Schlange hatte er ihm eben doch nichts erzählt, so sehr schwach die eigene Position damals gewesen war (und dies dachte er wörtlich so), jene Stellung war gehalten und nicht preisgegeben worden, sie war besetzt geblieben, jene Reserve behielt er damals in der Hand (so tief und jahrelang nachwirkend waren, nebenbei bemerkt, militärische oder kriegerische Bilder und Vergleiche in's Vorstellungsleben der Menschen eingedrungen, wahrhaft in's Kernholz der Erinnerung gefahren mit manchem Hieb, auch bei notorischen Zivilisten – müssen wir's da nicht beachtlich finden, daß sich bei einem Majoren Melzerich dies alles schon bemerklich lockerte?!). Stangeler sah zugleich jetzt mit überraschender Klarheit, daß er sich damals durchaus richtig verhalten hatte; in diesem einen Punkte wenigstens hatte er nicht versagt. Denn Geyrenhoff wäre zweifellos die verkehrte Adresse für den Bericht von jenem Erlebnisse in der Schlucht gewesen. Dagegen der später nachgekommene Melzer war die richtige. Und hier, an dieser Stelle, an diesem nun schon scharf angeleuchteten Punkte haltend – René war inzwischen in sein Hofzimmer hinüber gelangt, das auffallend erfüllt schien vom Dufte oder Dunste des wilden Weins und der anderen Gewächse draußen auf dem langen Balkon vor den Fenstern, ganz dicht war der Geruch, fast geil – hier nun, bevor er noch das Licht einschaltete, im Dunkeln in dem kühlen Raume stehend, fühlte er, wie eine riesige Hebung und Senkung in
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