Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
Vom Netzwerk:
zurückgekehrt, um sechs Uhr war das letzte Paar Strümpfe gestopft – in unbefristeter Pönitenz. Vorhaltung, Verhör, Geständnis und Urteil hatten kaum eine halbe Stunde in Anspruch genommen, und Thea war diesmal wirklich mit voller Pünktlichkeit am elterlichen Abendtisch erschienen (ohne das eigentlich für Sonn tag versprochen zu haben). Und zwar gänzlich unverweint. Sie trug nur eine Art Blei-Mantel, unsichtbar, versteht sich. Ihre Fassung, ja beinahe Unverletzlichkeit, bestritt Thea Rokitzer bei alledem aus einem Reservoir, welches sich während des Rittmeisters halbstündiger Abwesenheit ihr tief überraschend und ergiebig geöffnet hatte: so wie diese nun wirklich leere Diwan-Ecke gleichsam offen gestanden war, und erfüllt und besetzt werden konnte mit dem, was in Thea eintrat, während der Stille einer Zeit, da sie ganz und gar sich selbst überlassen blieb. Sie ließ nicht (wie man hier wohl oder eigentlich übel schreiben könnte) »ihre Arbeit sinken und sah nachdenklich vor sich hin«. Gar nicht. Sie stopfte eifrig drauflos, Strümpfe und Socken, allerdings ohne zu ahnen, daß sie damit der eigenen Exekution geradezu entgegenstrebte. Sie machte es ganz ebenso wie damals im Juli, als der Major hier gesessen hatte; auch da war nicht gefaulenzt worden. Und gerade das hatte jene Stunden so gemütlich, so heimlich gemacht. Melzer war hier nicht gesessen als ein Gast, während dessen Anwesenheit man seine Beschäftigung unterbricht, sondern als einer, mit dem man gewissermaßen weiterlebt, weil er so sehr dazugehört, daß erst sein Wieder-Fernsein auffallen kann. In Wahrheit, sie hatte mit Melzer gelebt während dieser Stunden, einen gewissermaßen höheren und reineren Boden zwar betretend, als jener war, auf dem ihre sonstige Existenz hinlief, und sonderlich damals: aber es war kein ausnahmenhafter Boden gewesen, es war schon ein solcher, der durchlief, auf dem sich leben ließ, und nicht nur ein kurzes feiertägliches Podium. Und darum hatte Thea nicht gefeiert, auch damals nicht, sondern rasch und genau gestichelt, wie eben jetzt, wo unser Major ihr nur im Geiste (soweit davon die Rede sein kann) hinzugegeben war.
Auch davon sprach sie zu Paula, weil eben das Sprechen der Rokitzer immer ein kürzester Weg von der letzten und lebhaftesten Empfindung zum schon redenden Munde war, wie ein an die Wand geworfener Ball in die Hand zurückspringt. Dieser Weg war gleichsam zu kurz, um Lügen entstehen zu lassen, und eine solchermaßen bedingte Offenheit ersparte der Wahrheitsliebe jede Versuchung: ja, ob jene überhaupt vorhanden, blieb dabei unerwiesen. Die Pichler lag im Strecksessel, und Thea saß bei ihr, aber nicht in Schuh-Distanz, wie letzthin die Loiskandl Hedi, sondern dicht beim Ohre der vertrauten älteren Freundin, in das sie förmlich hineinkroch, wispernd, murmelnd, manchmal ein klein bißchen schluckend und schluchzend. Es versteht sich fast von selbst, daß nach Theas Darstellung die Pichler den Eindruck haben mußte, es habe jene Frau Schlinger gerade am Sonntag-Nachmittage, während der Rittmeister kurz bei ihr gewesen, ihr Versprechen gebrochen und Thea verraten; aber wann genau das nun geschehen sei, blieb schließlich übrig und gleichgültig; Paula hatt' es für früher oder später erwartet und in bezug auf die Diskretion der Schlinger immer pessimistisch gedacht, wie man sich wohl noch erinnert. Ebenso im Grunde über Theas filmische Absichten. Dem Gebiete vollends ferne stehend, schien ihr doch bei der jüngeren Freundin eben das zu fehlen, was sich irgendwie hätte aussprechen müssen und können: eine innere Reizung und Würze, und sei's nur ein Salzkorn, als geheimer Kern der Person. Es fiel ihr leicht, in diesem Punkt, Thea zu trösten, die hier, nach dem Instinkte der Pichler, geradezu vor dem Betreten eines verkehrten Weges bewahrt worden war. Freilich sprach Paula dies nicht aus. Es gab noch andere Punkte. Die Eltern. Die Loiskandl. Hier al lerdings war man befreit von der Erwägung, ob nun der Rittmeister zu unterrichten sei oder nicht. Thea war aus seiner Nähe verbannt, und Pönitenz ist Pönitenz, sollte, ja, wollte es jetzt sein: zum letzteren suchte Paula die Freundin allmählich zu leiten. Das Hauptstück über allem aber blieb für die Pichler der Major. Vom idyllischen Solo Theas in der Diwan-Ecke am gestrigen Sonntage hörte sie mit dem lebhaftesten Interesse.
Bei allem aber bewohnte sie ein neu anwesender Gedanke (und davon kann bei Paula Pichler sehr wohl die Rede

Weitere Kostenlose Bücher