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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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sein, wie wir bemerkt haben). Dieser Sommer, diese letzten Monate, welche ihr eine bisher noch ungekannte Einsicht in die Verfassung eines Wesens wie Thea eröffnet hatten, sie waren ganz zugleich und zunehmend durchzogen gewesen von einer Mahnung, die jetzt vielleicht schon dem Höhepunkte ihrer Deutlichkeit sich näherte, nicht mehr bloß irgendwo und irgendwann durch einen offenen Spalt ins Bewußtsein hervorhuschend: sondern jene Mahnung erhob sich jetzt schon im Wortbereich: wie ein Gegenstand, den man bei Nacht in's Zimmer geschoben hat und der nun auch mit diesem in die Morgenhelle tritt und da steht als eine sichtbare und begreifbare Sache unter anderen Sachen auch. Paula dünkte es heute, als seien alle Leute, die mit einer Thea Rokitzer Umgang hatten, in einem besonderen und erhöhten Maße verantwortlich für diese, ja so weitgehend, daß für die gedachte Thea selbst eigentlich dabei nichts übrig blieb. Dies aber nicht wegen des Mangels an Intelligenz bei jener, wegen ihrer Gutartigkeit und Wehrlosigkeit; sondern aus einem anderen und aus diesem einzigen Grunde: wegen ihrer Leere. Es hing alles davon ab, wer in sie irgendwelche Sachen hineinstellte, und was das war. Sie erschien Paula wie eine Vitrine ganz und nur von durchsich tigem, reinem, farblosem Glase, unsichtbar fast wie die Luft. Aber sichtbar wurde, was da hineinkam, sogar überaus sichtbar und von allen Seiten. Geradezu hervorgehoben, auf gläsernem Präsentierbrette, und in ein Fach, ganz von Glas, eingeschlossen, nicht mehr zurückzunehmen. Wohl möglich auch eine schwere Anklage. Ein corpus delicti. Eine Sichtbarmachung, eine ganz schonungslose, des Gebers, nicht desjenigen, dem man gegeben hatte. Paula Pichler begann in diesem Sinne nicht nur weise Vorsicht zu üben, sondern viel tiefer drunter noch geradezu Scheu zu empfinden, wie vor etwas Unheimlichem, ja vor einer wohl möglich furchtbaren Rolle, welche dieses Mädchen spielte, ahnungslos und ausnahmslos jedermann gegenüber, auch ihr selbst gegenüber, der nächsten Freundin. Schon wog die Pichler ihre Worte. Und wenn der Freiherr von Eulenfeld gemeint hatte, daß genau erkannte eigene Geistesschwäche im Effekt auf's gleiche hinauslaufe wie hohe Intelligenz: so war hier der paradoxe Effekt unseres Lämmleins Thea darin gelegen, daß eine Paula Pichler sich ihr gegenüber so vorsichtig, ja pfiffig (sanft pfiffig möchte man sagen) verhielt, als hätte sie es mit einem Menschen zu tun, der durch die besondere Beweglichkeit seiner Intelligenz ein erhöhtes Wachsein vom anderen erfordert. »Nur kein falsches Depot machen«, das war die ständige Selbstmahnung der Pichler im Umgange mit Thea geworden; und gar nicht deshalb, weil diese von ihr für indiskret gehalten wurde. Paula hielt von der Diskretion anderer Menschen, und gar der Frauenzimmer, überhaupt wenig, fast nichts (wir haben's in dem Falle Schlinger bemerkt). Aber bei Thea hatte sie bald die Empfindung, als gebe sie, zu ihr sprechend, unwiderruflich was zu Protokoll. So strenge wirkte die ahnungslose Rokitzer nun schon auf ihre Freundin! Ja, dieser erschien sie wirklich wie ein Ausstellungsraum, ein Schaukasten, und mancher hatte da schon ein Objekt hineingesetzt, ausgestellt, etwa ein ganz kompromittierendes Porträt seiner selbst: der Rittmeister, die Loiskandl. Und aus solchen oder besseren Beiträgen schien die ganze Thea zu bestehen. Der Pichler, welche sich hier – zuletzt eben schon bewußt über diese Sachen nachdenkend – freilich nach Vergleichen umsah, erschien etwa Tante Lintschi Nohel daneben wie mit starkem Schild und Panzer ausgerüstet und auf 's allerbeste geschützt.
Es kam geradezu von da her, aus diesen dumpfen Gefühlen, aufsteigenden Mahnungen und am Ende recht klaren Raisonnements, daß unsere Pichler ihrer Thea beispielsweise von den am Westbahnhofe erschauten (diesbezüglichen) Duplizitäten nichts erzählte. Am Mittwoch traf sie René, um drei Uhr.
Es war – ihre Gegend, sozusagen. Ihr Klima. Nicht begegneten sie einander wie auf einem dritten, weder ihr, weder ihm (weder Wedder, Deibel nochmal!) zugehörigen Boden: sondern er trat wie bei ihr ein. Es war ihr Machtbereich, diese ganze Gegend, ihr Hain, der Hain dieser Dryade Paula Schachl. René fühlt' es auch heut wieder, seit er den Bezirk betreten. Hierin hatte sich im Grunde nichts geändert bei ihm in den vielen Jahren. Das gab ihr vom allerersten Auftakt der Begegnung an ein Übergewicht. Denn was ihn, der da von außen kam, jetzt gefangen

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