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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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nahm, das machte ja ihre Grund-Befangenheit aus, die ihr selbstverständlich war (das gewaltigste neben uns schlafende Ungeheuer, diese Selbstverständlichkeit!), ja, noch weniger als das, weil sie nicht einmal davon wußte. Sie stand in ihrer Welt, gar nicht anders wie ein Amazonas-Indianer in seinem Urwald, ein Steppen-Kirgise vor dem teller-runden kupferbraunen Horizont. Sie stand in ihrer Welt, und klug. Er wechselte zwischen den Welten – Tropidonotus-Schluchten und Siebenschein'schen Zimmern – und dumm; was ihm fehlte, bekam er nur langsam durch manches schmerzhafte Bewechseln der Grenzen zwischen anscheinend Unvergleichbarem; dessen sie entraten hatte können, weil sie's ab ovo besaß (um diesen lieben Ausdruck zu verwenden, für welchen der Sektionsrat Geyrenhoff irgendeine tick-artige Vorliebe gehabt haben muß, denn er kommt in dem schon einmal erwähnten dicken sauberen Chronik-Band so oft vor, daß es bei vorschreitendem Lesen auffällt). Es gehört, unseres Erachtens, zu den traurigsten Tatsachen in der diesbezüglichen Biographie des Herrn René von Stangeler, daß er jenes bekannte Gärtchen nie betreten, nie erreicht, nie gesehen hat, daß ihn scheinbar geringe Zufälle nur davon abhielten, wie man noch bemerken wird, in Wahrheit aber ein fundamentaler Sachverhalt: er war des Gärtchens nicht würdig.
Nun, dies alles zusammengenommen gab der Paula Pichler hier im ›Café Brioni‹ in den ersten Sekunden des Kontaktes die Überlegenheit (während ein überraschender Platzregen draußen durch Minuten die Scheiben wusch). Jedoch zwei Umstände waren es, welche jene Überlegenheit erschütterten. Der erste sogleich. Sie fühlte jetzt und hier, was auf dem Bahnhofe so schlagartig überzeugend keineswegs sie angetreten hatte: daß er sie noch liebte, ganz wie einst. Und, wie im Rückstoß: daß sie ihn noch liebte, ganz wie einst.
Es ging ihr das gewissermaßen über den Verstand (ihm nicht, soweit von einem solchen da die Rede sein kann, ihm war's selbstverständlich). Unfaßbar, was das für eine Liebe sein mochte, die von ihm her andrang, welche sie selbst empfand und die wie raumlos auftrat in diesem Leben, weil sie nichts beiseite schob, nichts minderte, mit nichts in Konflikt geriet, an nichts litt und also auch nichts ändern wollte.
Er hielt bei der Begrüßung ihre ganze Hand, mit festem Druck, und sah sie aus seinen etwas schräg stehenden Augen entzückt an, als betrachte er irgendeinen leuchtenden, besonders schönen Gegenstand, ein Ding der Kunst, daran der Blick sich entzündet.
Und bei ihr wär's fast ebenso oder verwandt ergangen, hätte nicht ihr besserer Anstand sie gebändigt, ihre Lustigkeit nicht alsbald dazwischen geblitzt, wie jene Reflexe, welche die Lausbuben in der Schule mit kleinen Taschenspiegeln auf der großen Tafel irren lassen.
Der zweite Umstand aber, welcher Paulas Oberwasser hier ableitete, war von ganz anderer Art. Weil René danach fragte, machte sie ihn dessen gewiß, daß Thea Rokitzer am Freitag auf dem Bahnhofe von der seltsamen Doppel-Erscheinung wirklich nichts wahrgenommen habe; auch die Tante Nohel nicht; denn die habe sich, wie sie eben einmal sei, gleich angelegentlich mit der Thea unterhalten, als sie bemerkte, daß er, René, und sie selbst flüsterten. Auch hätte sie ja vorgestern, am Montag, als Thea bei ihr gewesen, und über alles und jedes überhaupt mit ihr geredet habe, irgend etwas bemerken müssen. Nein, diese sei ahnungslos. Und sie selbst habe ihr natürlich nichts gesagt.
»Warum – natürlich?« fragte Stangeler, dem dieses Wort in solchem Zusammenhange auffiel.
Paula, welcher es ganz fremd war, daß man ein einzelnes Wort aus dem Sprachgebrauch herausgreife – wie fast alle Menschen ihres Bildungsgrades sagte sie, was sie meinte, nicht durch Setzung abgegrenzter Wörter, sondern durch Mischung aller mit allen, wobei da und dort immer noch was hinzugetan ward, dem Naß-in-Naß-Malen des Aquarellisten vergleichbar – Paula also, für die solches Wörter-Arretieren unbegreiflich sein mußte, blieb zunächst etwas verdutzt und antwortete endlich: »Weil es besser ist, wenn man ihr nichts sagt. Man tut ihr damit schon was an, mein' ich, es ist zuviel für sie.«
»Also wegen – ihrer Natur«, sagte Stangeler bedächtig (das waren so die Anlässe, bei denen er sogar bedächtig werden konnte). »Deshalb also sagtest du ›natürlich‹?«
»Natürlich!« rief Paula lebhaft. »Wegen ihrer Natur. Da hast' ganz recht. Das ist nix für sie. Aber

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