Die Strudlhofstiege
Sommer. Welch ein Rückschritt! Ich fühle mich eingesponnen wie eine Puppe, ein Kokon. Den ganzen Sommer: nur schlechtes Gewissen; und Einsamkeit und Schmerz. Und als ob ich alles, alles wieder verloren hätte. O ja, es ist schön in Wien. Es ist schöner als in Buenos Aires. Ich weiß es heute. Ich gestehe es mir ein. Aber ich bin ja krank. Ich muß zurück in mein Sanatorium. Wo ich schon gesundet war. Es ist schön hier. Ich war so gern in Greifenstein. Wo der Strom jung um die Ecke kommt und entschlossen in größere Maße hinausgeht, ohne zu zögern, er fließt und fließt. Es wird die Tiefebene sein. Hier sind die letzten Berge.« (Sie wies kurz hinter sich, aber da draußen sah man nicht mehr viel, alles versank in den aschgrau gewordenen Abend, der fernste und der nächste Punkt bildeten zusammen schon die aufwachsende und abschließende Wand tieferer Dämmerung.) »Ich war doch gern hier. Es war süß. Aber der Boden ist wieder ganz durchlöchert; und in den Löchern die Spinnweben. Otto, auch du warst sehr lieb. Aber du stiehlst einem den Paß bei Nacht, und es kommt ein Mädchen, das weint, und das ich schlage, ohrfeige, obwohl sie ganz unschuldig ist, nur aus Verzweiflung. Viel ist zu verheimlichen. Ob Stangeler die Verwandten Theas auf dem Perron getroffen hat oder schon in der Wartehalle, das ist die Frage. Und man muß es herauskriegen, während die arme Thea Strümpfe stopft. Und den ganzen Sommer soll ich zu den Eltern gehen und wieder den Papa foppen und betrügen und die Alte dazu. Ich schiebe es vor mir her, weil ich's nicht kann. Aus Mai wird Juli und es wird heiß. Und mit dem Major Melzer komme ich auch nicht weiter. Ich kann ja auch mit ihm kaum reden. Er kommt immer mit irgendwelchen alten Sachen, die ich nicht kenne. Auch dieser Stangeler belauert mich irgendwie. Im Kursalon, beim Tanzen oder eigentlich beim Tee, da benimmt sich eine Frau von Budau ganz unverschämt gegen mich, der Rittmeister war dabei, ich frage den Melzer, wer das eigentlich ist? Das war schon zu viel. Der ganze Berg von rohen Eiern kommt in's Rutschen. Wirklich, mir graust so furchtbar vor alledem. Ich hab' nicht nur vieles zu verheimlichen, sondern mich selbst als Ganzes soll ich verheimlichen, ich bin eine einzige Verheimlichung … Ach!« (Ihre Stimme sank, und auch ihr Körper fiel in sich zusammen, sie saß nicht mehr angelehnt, nicht mehr aufrecht, wie bisher, sie neigte sich vornüber, sie welkte gleichsam.) »Es ist im Grunde nichts als das Fern-Sein, welches ich ersehne, das Wieder-Fernsein. Oh, Editha, man soll die Rückkehr meiden zu dem Gewesenen. Es ist, als sinke man lebend in's Grab. Ich will fort. Wegfahren. Reisen. Zurück. Ich bin gefesselt, zermartert, zerlöchert, zerquält. Ich muß aus diesem Traum erwachen. Ich muß zurück in meinen anderen Traum. In mein Spital. In mein Sanatorium. Das ich doch wirklich erreicht hatte, diesen Hafen. Aber vielleicht vergeht und zergeht er derweil hinter dem Horizont, und ich komme nie mehr hin in meine Traumstraße Leandro Alem, und ich muß erwachen, und dieser böse, süße Traum hier, der allein ist die Wirklichkeit.«
»Machen wir Licht«, sagte Editha. Ihre Stimme klang unsauber, unbeherrscht, wie eine Lampenglocke, an die man gestoßen hat, die aber irgendwo zersprungen ist und nicht mehr tönt, sondern scheppert.
Sie ließ sich dann nur mit ein paar Fragen auf den Fall Budau ein. Und als sie erfahren hatte, daß dies gerade an dem Tage passiert war, der jenem seltsamen Auftritte mit Stangeler und Melzer auf der Strudlhofstiege vorangegangen war, nickte sie kurz und sagte:
»Das wird's gewesen sein.« Sie sprach die Worte beiseite, halb für sich und schwieg dann. Wieder war ihr Quecksilber wie in Erstaunen gefroren. Die unbeherrschbare Apparatur des Lebens, vielleicht nur durch Sekunden in ihr Bewußtsein starrend, schüchterte sie, wohl möglich, für diesen winzigen Zeitraum ein.
»Du hast natürlich nicht an alles denken können«, fuhr Mimi fort, diese einlenksamen Worte aber in einem kälteren Tone sprechend; und jetzt, da das elektrische Licht den Raum vom Draußen endgültig trennte, schien ihr Gesang überhaupt geendet. »Ich hab' das auch durchaus wieder in Ordnung gebracht.« (Sie beschrieb nun ungefähr wie.) »Aber ich frage mich: ist all dieser Aufwand der Mühe wert? Nein. Er scheint mir sogar völlig sinnlos. Sage ehrlich, Editha, was steckt bei dir dahinter? Nichts als materielle Interessen. Und dabei nicht einmal große. Du sagst, für
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