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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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der Lehne des Fauteuils bei Stangeler, umschlang ihn und küßte dreimal seinen Hals. »Jetzt will ich aber sehen, ob mein Bild noch drinnen ist!« Sie sprang zum Sekretär und holte ein winziges Federmesser. »Na, so was!« rief sie und sah gerührt und begeistert in die geöffnete Kapsel. Und plötzlich: »Kannst du mich auch heute noch lieb haben?!« Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände. Bei einem so jungen Menschen bricht die Kraft gleich vor, wie die Tiere aus einem Zwinger, wenn der Schuber geöffnet wird. Er trug sie diesmal nicht, sie gingen Arm in Arm. Editha aber zog ihn jetzt nach rechts und öffnete die Tapetentür. Es war ein kleineres Schlafzimmer, eine süße Schachtel, ein Maximum an Geborgenheit und Verborgenheit schlechthin. Neben dem Bette befand sich in Weiß, in Glas und Messing ein bequemes Gestell, das mehrere Flächen als Ablagen darbot, die mit Briefen und Büchern durcheinander verräumt waren. René hockte auf dem Boden und begann Editha die Schuhe und Strümpfe auszuziehen.
    »Warum hast du vorhin nach links weitergehen wollen?« fragte sie, sich herabbeugend.
    »Ich meinte – zum Diwan«, sagte René halblaut (eine Sekunde später holte er sich selbst erst ein und die aus der schwindenden Besinnung so plötzlich und leicht sich lösende Klugheit).
    »Nein, nein – hier ist es doch viel schöner«, rief sie, ihre Stimme klang fröhlich.
    Schon fiel alles. Er preßte das Gesicht gegen ihren Körper. Über der Lende war von einer Narbe keine leiseste Spur zu sehen.

    Es war fast dunkel, als René wieder auf die Straße kam. Er stand hier wie untermauert. Fest gestützt. Dick unterfüttert. Die Unabweisbarkeit der Fakten umschloß ihn gleichsam bis zu den Hüften herauf, sie gab Sicherheit, enthob das sonst nur Innerliche der Gefahr, in ein Dämonen- und Gespensterdasein zu geraten: sie bot sich jedem noch immer aus den Wirbeln des Staunens tauchenden Zweifel als ein Halt, und gebot jenem Halt. Der Punkt tief dort rückwärts im Vergangenen, in jener Zeit, bevor er Grete Siebenschein gekannt, der Punkt, bis auf welchen er neulich sich hatte zurückziehen wollen, um erst recht auf sie zielen zu können und dann auf sie zu treffen, dieser Punkt war jetzt konsolidiert: hier schnappte die Sehne ein, wie auf der Rast gespannter Armbrust.
    Er blieb stehen, von dem gleichsam bodenwärts stürzenden Gewichte dieser Einsicht auf der Stelle festgehalten (nahe jener Ecke bei dem Café, hinter dessen hohen und oben von Bogen eingefaßten Scheiben Dolly Storch einst die Hausmeisterischen am Kartentische gesehen hatte). René wog den Pfeil, welchen er da auflegen sollte, in der Hand. Zweimal schien ihm die Sehne gespannt und zurück gezogen worden zu sein: beim ersten Mal wie in die Ferne des Raums und fremder Länder (aber da hätte er noch in's Blaue geschossen, aus der Gondel!), jetzt aber, noch weiter und tiefer zurück, in die Ferne eigener Jahre, vor denen nunmehr die Gegenwart wie eine Zukunft lag, die man freiwillig erwählen konnte. Dahinein galt es zu treffen. In's Schwarze. Schon erglühte das Zentrum rot, schon sprang der rote Ring zurück, in's schwarze Gewölk gelöst. Grete galt der Pfeil, in den er selbst sich jetzt wie verwandelt fühlte. Sie galt es zu treffen. Nicht aber irgendwem irgendwas zu sagen.
    Das kostbare Geschoß sinnlos zu versenden.
    Er sah Melzern jetzt wieder wie unter Wasser treiben oder unter Glas schwimmen in seinen weißen, weiten Porzellanhosen von damals.
    Noch einmal, da das Schußfeld nun frei lag und klar das Ziel, da nichts mehr gesucht werden mußte und erquält, kollerte aus diesen letzten Stunden eine unüberschaubare Buntheit im einzelnen. Hinter manchem davon stand es wie goldene Glocken tief hinab. Er sah den Abgang und Rückweg jetzt vom Fuße des Felsens, nachdem Asta und Melzer von dort oben zurückgekehrt waren; durch den teilweis noch steinigen Wald heraus auf eine einsame Lichtung (in deren Mitte wieder ein Block stand, ein kleinerer), und Edithas Gehen vor ihm: und Editha überhaupt in den folgenden zwei Tagen, da er sie doch gar nicht beachtet. Aber jetzt kehrte sie wieder, und so hatte er sie doch wohl gesehen. Und die Nacht auf seinem Zimmer: dies bot sich in vollkommener Selbständigkeit, wieder unabweisbar. Er vermeinte zu fühlen, daß hier gewissermaßen das Leben Wort gehalten habe. Und auch die Strudlhofstiege hatte niemals gelogen. Auch darauf kam man und streifte es kurz. Editha plätscherte in den fernen Zeiten wohlig herum wie ein

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