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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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zeigte. Ein zihalistischer Gesichtspunkt jedoch lag dem Advokaten fern. Und in der Zeitung hatte er wichtigere Dinge zu lesen als die anscheinend längst geordneten und vergangenen Abgänge in irgendwelchen Depots oder Hauptverlagen der Tabak-Regie. Es war dem Doktor nicht recht klar zu machen, daß es sich hier auch um eine Sache von Wichtigkeit handeln könne; er hatte zwar keine Mauer im Gehör, wohl aber eine Art wehenden unruhigen Vorhanges davor, und am Ende erwies es sich hier tatsächlich als unmöglich durchzudringen, fast so unmöglich, wie es sich – allerdings nur in der Vorstellung – erwiesen hatte, dem Major Melzer von den gedoppelten Damen zu erzählen. Wichtig erschien dem Doktor Adler allein, daß seine Paula Schachl, jetzt Frau Paula Pichler, gekommen war, ihn zu besuchen, und daß es ihr in allen Stücken wohl erging.
    Und so stieg sie denn endlich mit einer Bonbonnière (die der kleinen Therese noch durch längere Zeit Freuden spenden sollte) und einem Rosenbouquet im Arm die Treppen hinab und trat wieder auf die Marc-Aurel-Straße hinaus. Der alte Kaiser, Philosoph, Imperator und Triumphator, den wir nun in diesem Zusammenhange schon mehrmals haben beim Na men nennen müssen, hätte sich der Paula amoenissima zweifellos erfreut, welche da seine Stadt Wien verzierte.
      Jetzt, während des neuen Gesprächs, aber flog unsere Pichler etwas an, was jedweden Zusammenhang mit den Sachen, welche sie im Auge hatte, und mit den Zwecken, die sie verfolgte, ganz und gar vermissen ließ. Sie sah sich selbst aus dem Haustor des Rechtsanwalts treten, und nun blickte sie die Marc-Aurel-Straße hinab in der Richtung gegen den Donaukanal zu. Dieses sich selbst Sehen aber und das Bild der grauen und besonnten, zum Teil alten Häuser, die entlang der abfallenden Gasse standen, überstieg mit seiner plötzlich in ihr aufglänzenden Intensität die sonst gewohnte Art des Kommens und Gehens solcher Vorstellungen und Erinnerungen: und das wirkte eine Art zarten Alarm bei Paula, nur wußte sie nicht, woher er eigentlich kam und wohin er sie rief … aber nun war sie auch schon dort: bildhaft, nicht mit dem Verstande, nicht mit der Einsicht in einen Zusammenhang: sie sah den Schwager Renés vor sich, damals noch der Verlobte seiner Schwester; da war die Konditorei in der Alserbachstraße und das lustige Beisammensein zu dritt …
    Und die Strudlhofstiege. Der Auftritt. Der alte Mann (!) oben und das Paar in der Mitte. Wie der Vater die geknickte Tochter hinter sich hergeschleppt hatte! Und der Kleine mit dem großen Kopf war finster hinab und davon gegangen.
    Freilich hatte ihr René gleich danach das Ganze erklärt (und etwas später, als er mehr wußte, noch einmal), obwohl es einer Erklärung eigentlich gar nicht bedürftig gewesen war, so wenig wie ein Theaterstück oder Film, bei welchem man nur sehen mußte, was gespielt wurde: und ganz so hatte sie zugesehen, gar nicht anders.
    Jetzt ruhte Astas musternder, wenig wohlwollender Blick auf ihr.
    Und neben Asta stand Melzer.

    Fast gleichzeitig, auf einem anderen, fast noch sprunghafteren Wege, war Melzer dahin gelangt, Paula, die er ja ein einziges Mal im Leben vor vierzehn Jahren gesehen hatte – eben bei jenem Skandal auf der Strudlhofstiege – jetzt seinerseits wiederzuerkennen. Für ihn aber wies sich das Faktum als solches von weit geringerer Bedeutung als der Akt, welcher es sichtbar machte, der vierzehn Jahre tiefe Sprung, eine von den neuerlichen Besitzergreifungen seiner eigenen Vergangenheit, die in letzter Zeit sich häuften, dichter und dichter einschossen, ein Trommelfeuer des Gedächtnisses, aber doch nur, wie ihm ganz zutiefst ahnte, die Vorbereitung einer entscheidenden Durchbruchs-Schlacht (da wir nun schon einmal bei den einem Militärsmanne angemessenen Metaphern sind).
    Er hatte sich als Ruhepunkt für sein Auge eine kleine Stelle an Thea's rechtem Unterarm gewählt (dieser war von St. Valentin her leicht und natürlich gebräunt und zart weißlich beflaumt), und das erwies sich als die noch beste Art, wie er an ihr vorbeisehen konnte, von ihr absehen, ohne sie doch ganz in seinem Gesichtskreise zu missen. Ihm schien auch durch Augenblicke dann und wann, als nähere sich ihm diese zarte Aprikosen-Rundung, wie sich die Wange des Kindes unter der Torfahrt genähert hatte, ja, als schwebe sie dicht vor seinem Munde. Wie groß wäre Tantalus gewesen, wenn er dem Hades nicht hereingefallen, nie nach den Früchten gegriffen, nie nach dem

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