Die Strudlhofstiege
pünktlich. Ich muß jetzt schließen.« Während sie sprach, hatte er nur dieses eine Bedürfnis: ausnahmslos »Ja« zu sagen, jedenfalls zuzustimmen, nicht sich zurückzuziehen. Nun sah er hinter dem Gespräch drein, hinter Editha, plötzlich auch hinter Thea und Paula, die jetzt an der Lände entlangschritten. Er konnte vorher noch hingehen. Zwischen vier und fünf. Dieser Gedanke aber war sozusagen eine Formalität. Alles wob sich zur Wand, die bezeichneten Eingänge waren wohl sichtbar, aber nicht eigentlich glaubhaft. »Ich danke Ihnen für die Telephonwache, gnädige Frau«, sagte er zu der Rechnungsrätin, die eben heraustrat, »ich hab' lang geschlafen. Übrigens: das Gansl war herrlich. Abends geh' ich in's Wirtshaus.« Er bereitete schnell Kaffee, sehr stark. Die Räume waren jetzt randvoll erfüllt von süßer, pappiger Gewißheit: fast zu viel. Die Zeit verschwand darin wie ein Karstfluß: bald wurde es sieben. Melzer trug sich selbst in seinen Zimmern umher wie eine Waage, auf der man nichts wiegt, die nur schwach schwankt aus der Horizontale, als sollte das Wägende hier selbst gewogen und gezählt werden. Zwischendurch beschloß er etwas: morgen im Amt bis zwei Uhr durchzuarbeiten und dann Schluß zu machen; in der Frühe gleich zum Hofrat gehen und um die ausnahmsweise Erlaubnis bitten; wird ohne weiteres gewährt; eventuell Mittwoch oder Samstag-Nachmittag die versäumte Zeit nachholen.
Im ›Beisl‹ war Melzer allein. Nach dem Essen ein paar Schritte im warmen Abend: die Fürstengasse; über die Liechtensteinstraße hinüber; dann das allerstillste Stück der Strudlhofgasse überhaupt, unten, wenn man grad auf die bemooste Vase zugeht und die Maske von Stein, welche einen dünnen Strahl Wassers entläßt. Das Rauschen des Brunnens am Ab satz oben ist zu hören. Melzern erscheinen die leeren Stiegen, die von den Kandelabern beleuchteten Bühnen und Rampen, heute riesenhaft groß und geräumig. Da steht er nun wieder, und wieder wie anfragend: wie der fromme Pilger vor der fugenlosen Umfassungsmauer des Tempelbezirks von Delphi. Plötzlich bedrückte ihn die gewissermaßen schamlose Art seiner Schilderung des Auftrittes hier im Jahre 1911, welche er Editha gegeben hatte. Durch einen Augenblick meinte er ernstlich – die Stiegen beleidigt zu haben. Und blieb unten lange stehen, ohne sie etwa zu betreten. Es gab ein wenig Nachtwind. Aber der genius loci, die Dryade, die Göttin, sie schwieg. Nicht nur, weil sie etwa schon schlief, das Köpfchen geneigt, tief im Holz eines Stammes oder sonstwo; sondern aus noch einem sehr einfachen Grunde: weil sie längst geantwortet hatte. Und Götter sagen nichts zweimal.
Die Kinder waren schon um halb acht gegangen, der Bub in's Gymnasium, das Mädel in einen Kurs; Mary aber in's Badezimmer. Während sie unter dem heißen Wasserspiegel in der Wanne lag und gleichgültig ihren Körper betrachtete (immer noch ohne Tadel, aber seine Wirkung blieb hier freilich aus, zwischen gekachelten Wänden und vernickelten Hähnen), bewegte sie sich mit Befriedigung entlang einem Gerinnsel von Vorstellungen, welches aus den letzten drei Tagen herausfloß, aus deren Ende und Abschluß und hinter ihnen her: sie war am Donnerstag nach Rekawinkel hinausgefahren und dort bis gestern, Sonntag, den 20. September abends, geblieben; um dann mit ihrer Tochter zurückzukehren. Diese hatte draußen bei zwei Freundinnen, Schwestern, in deren elterlicher Villa noch kleine Ferien von etwas über einer Woche genos sen. Aber es war keine Ruhe geworden, bis man Mary für die letzten drei Tage glücklich draußen hatte: keine Ruhe nämlich am Telephon. Erst die jungen Mädchen; dann gleich auch deren Eltern – welche Mary kaum kannte: sie möge ihnen doch das große Vergnügen machen, noch zu kommen, sie würden sich so sehr freuen, und erst recht die Kinder, und ob sie nicht den Wagen hereinschicken dürften? Nun, am Donnerstag war er unten vor dem Tor gestanden. So oder ähnlich aber ging es der Frau Mary mit allen Freunden ihrer Kinder: sie wurde verlangt, urgiert, aufgesucht, man kam zu ihr, machte seinen Kratzfuß, saß bei ihr, länger als nötig und ganz offenkundig sehr gern. Auch die angehenden Ober-Gymnasiasten machten davon keineswegs eine Ausnahme, ja, die schon gar nicht. Und hinter den Kindern tauchten dann die Eltern auf und bewarben sich um die schöne und gescheite Mutter, welche die Freundin ihrer Töchter hatte – so war's, Mary machte sich hierin nichts vor, und man machte
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