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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Reisehandbuch, Bosnien betreffend, aus dem vorigen Jahrhundert, von Boroevič; ein Generalstabsbericht, gedruckt zu Wien 1879: ›Die Okkupation Bosniens und der Herzegowina im Jahre 1878‹. ›Der Schut‹ von Karl May; eine deutsche Ausgabe der ›Drei Musketiere‹ von Alexander Dumas, großes Format, mit den Illustrationen von Leloir; das ›Exerzier-Reglement für die k. u. k. Fußtruppen‹. Ein gleiches, für die Kavallerie (einst Eigentum seines Vaters: Melzer, Rittmeister, war von dessen Hand hineingeschrieben); ein Roman von Marcel Prévost ›L'automne d'une femme‹, in französischer Sprache – irgendwer hatte dieses Buch einmal irgendwann und irgendwo bei Melzer liegengelassen, seitdem bewohnte es mit ihm durch ein Jahrzehnt die verschiedensten Zimmer; als letztes fiel ihm jenes Buch in die Hand, das Mary Allern ihm einst gegeben hatte, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit ihr; es öffnete sich, ganz vorne; er las: »… jede meiner Umgebungen enthielt Gefahren, und was diesen Punkt betrifft, ist auch heute, im zwanzigsten Jahrhundert, überall Wald …« Melzer schloß den Band, öffnete den Roman von Prévost; er las: ›Oh ténébreux et troubles, nos cœurs humains, même les plus sincères!‹ Dieser Satz war im Text als gesonderte Zeile gedruckt. Melzer fühlte das Fehlen jeder Beziehung dieser Worte zu seinem eigenen gegenwärtigen Zustand. In ihm war nichts finster und nichts verworren: er empfand sich als hell und aufgeräumt, wie dieses Zimmer, ja beinahe ausgeräumt. Das Wetter war anscheinend ganz klar geworden. Sonne lag gegenüber, rechts oben, auf dem höchsten Stockwerk. Die Bücher hatten sich in einem dazu geeigneten offenen Fach des Wandschränkchens hier in der Ecke befunden, in einer Art Nische mit kleinen Säulen; er stellte sie nun wieder hinein. Man wird zugeben, daß diese recht bescheidene Sammlung – freilich war sie kaum eigentlich gesammelt worden – nichts Muffiges, Schlechtes, Halbgeistiges oder Halbweltliches enthielt; es waren wohl vorwiegend sozusagen nach außen gerichtete aber im ganzen doch mehr oder weniger treffliche Bücher (Doyles ›The Hound of the Baskervilles‹ in englischer Sprache sowie Stevensons ›Schatzinsel‹ wären gerade in diesem Zusammenhange noch zu nennen). Vor Tische sagte ihm Frau Rak (er hatte bei ihr angeklopft, um sie diesbezüglich zu befragen), daß sie heute nicht sich niederlegen werde, nach dem Essen; er aber möge das nur ruhig tun, für den Fall eines telephonischen Anrufes, der ihn angehe, würde sie ihn sogleich holen. Melzer wollte ein klein wenig schlafen, nur kurz; keinen Kèf halten; sondern tie fer eintauchen, der Helligkeit entfliehen. Er legte sich auf den Diwan in seinem rückwärtigen Zimmer, ließ jedoch die Tür offen, um Frau Rak zu hören oder auch gleich das Telephon. Indessen wurde es doch ein Kèf: ohne Kaffee, ohne türkische Pfeife. Er schlief nicht ein. Er lag wohl regungslos auf dem Rücken, aber der ganze anwesende Tag blieb in ihn wie hineingestürzt, nicht nur die Tageshelle hier im Zimmer (die hatte er sogar durch Vorhänge gedämpft), sondern auch jene in der Gasse unten, auf dem Platze vor dem Bahnhof, an der Lände … Es war auch kein ›Denkschlaf‹. Melzer dachte nichts. Er überlegte nichts. Er spielte kein Alternativen-Domino oder Entschluß-Puzzle. Er ging. Geradewegs auf eine sichtbare Wand zu, von welcher er wußte, daß sie unsichtbar werden und ihn aber auch durchlassen müsse im Augenblicke des wirklichen Antretens, das sodann und sogleich in's Eintreten sich verwandeln würde (bemerkenswerte Vorstellungen! wie ein chinesischer Tao-Schüler!). Mögliche und etwa zur Wahl stehende Eingänge blieben unberücksichtigt von Seiten Melzers. Sie waren auch in dieser Wand nicht größer als Schall-Löcher oder Bullaugen. In Sebenico ging er an Land und verließ den Dampfer ohne weiteres über den bereitliegenden Laufsteg. Als er aus dem endlichen Schlaf, den er noch immer nur für einen Halbschlaf gehalten, erwachte, war es bald fünf. Er saß auf dem Diwan, sprang herab, ging nach vorn, dachte an gar nichts. Das Telephon läutete ernst und ruhig, aber hell. Keine Atemknappheit. Alles vertretungsweise: diesmal vertrat aber nicht Melzer die Editha, sondern Melzer den Melzer. Sie schien doch irgendwie gehemmt beim Sprechen, die Stimme war unterdrückt. »Kannst du dich morgen nachmittag freimachen, morgen, Montag? Ja? Das ist wunderbar. Dann feiern wir mor gen unser Fest. Um fünf Uhr bei mir. Sei

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