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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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ließ sie gar nicht gelten, das ignorierte sie durchaus). Es klopfte. Mary rief ihrer Marie durch die Türe zu, daß sie nicht im Badezimmer frühstücken wolle, sondern drinnen am Tee-Tisch.
Die Marie hatte zwar das Fenster gegen die lange Gasse zum Kanal hinunter eben zugemacht, damit kein Staub hereinfliege und sich auf die Polituren der Möbel lege; von draußen jedoch lehnte ein erster, ein noch fast sommerlich warmer Herbstmorgen an den Scheiben, ein freundliches und gelindes Geöffnetsein allen Umkreises, wasserdunstig und milchigneblig noch von der Frühe am Kanal her, ein Wetter mit viel Raum, offenem Hohlraum der Erwartung; und in der Mitte solchen Umkreises, der gedämpft die Geräusche städtischen Lebens ausbreitete, saß nun Frau Mary hinter ihrer Tee-Tasse. Jedoch zwischen jener Umwelt und ihrem Innern, der Welt innerhalb ihrer Körperwand also, gab es heut so etwas wie eine Stufe, die beides trennte, das Außen und das Innen, und so beidem viel von seiner Wirklichkeit nahm. Alles schien unserer Mary zu stehen und zu stocken, in ihr selbst wie außerhalb ihrer; jene Stufe, ein abhebender Rand, hinderte ein Fließen und Verfließen, welches sonst ihr Lebensgefühl unterwuchs und trug; heut aber lag alles einzeln und gesondert in ihr und forderte als einzelnes Sorgfalt und Vorsicht und wies gleichsam im voraus schon alle jene Folgen, die da eintreten mußten, wenn man's an jener fehlen ließe. Sie gehorchte zunächst: und ging etwa mit dem Teegeschirr betont achtsam und langsam um. Eine Erinnerung machte zarten Besuch, kurz streifend, sie hing mit dem Leutnant Melzer zusammen und damit, daß man sich – wie irgendwer gesagt hatte – in jeder Umgebung in Gefahr befinden könne, in der gepflegtesten und vertrautesten, auch heutzutage noch, als sei man im Urwald. Mary war langsam. Sie hatte heute zu innerst sozusagen ein langsames Gesicht und glitt nicht dahin, sondern stieg von Stein zu Stein. Aber schon schaute sie ungeduldig aus von diesem am heutigen Morgen so scharf abgesetzten Rand ihrer Person, an welchen sie immer neu sich gedrängt fühlte, in eine Umwelt, die in der gewohnten Weise zu betreten doch mit einem einzigen hinausgetanen vernunftgemäßen Schritte möglich sein mußte.
Damit hielt sie beim Raisonnieren. Der leere Vormittag, eigentlich ganz ohne Vorhaben, zog solche an sich und sog sie an, sie stürzten von allen Seiten herbei wie die Luft in ein Vakuum: sie waren nicht eigentlich belebend und bewegend, diese Vorhaben, keine Impulse, sondern sie präsentierten sich viel eher wie eine Liste, ein Verzeichnis. Mary, den Blick alsbald von der getanen kurzen inneren Schau abwendend, begann dieses Verzeichnis eben durchzumustern, als das Telephon ruhig, mit einzelnen perlenden Glöckchentönchen, klingelte.
Es war Lea Fraunholzer. Die Stimme klang weich und fern.
In diesen Augenblicken erst erhielt Mary einen lebhaften und wirklichen Antrieb in bestimmter Richtung (den ersten am heutigen Morgen), und sie warf sich unverzüglich in diese Richtung, ohne den allergeringsten Widerstand oder Widerspruch, ja mit einem Eifer, der nicht nur gegenüber Lea, sondern vor ihr selbst, lebhafteste Teilnahme, heftigstes Interesse auszudrücken und vorzustellen bestrebt war. Hier hatte sie sich zu bewähren. Mehr als das. Denn neben sie, neben den Apparat, vor dem sie stand und sprach (dringlich, eindringlich), war sogleich, ja schlagartig, als Leas Stimme kenntlich geworden, ein schlechtes Gewissen getreten, das offenbar den ganzen Sommer über Zeit genug gehabt hatte, zu wachsen und sich zu sammeln. Daß sie vor einer Woche etwa bei Küffers angerufen hatte, erschien ihr jetzt fast nur als reine Formalität: sie hatte sozusagen gedeckt sein wollen. Sie vergaß jetzt wirklich des Doktor Negria, der sie, freilich ohne Wissen und Willen, dazu veranlaßt hatte, und sie dachte nur an die besonderen Umstände, welche ihr durch den Kinderarzt und Aktivisten zur Kenntnis gelangt waren: jene einem Zerwürfnis fast gleichkommenden Vorgänge oder Auftritte zwischen Etelka und dem Generalkonsul, draußen auf dem Lande, zu Ende des Monats August. Das schlechte Gewissen aber wurzelte in einem viel weiter zurückliegenden Zeitraum: es bestand seit dem ersten Alarm in bezug auf ›Mädi‹ Küffer-Fraunholzer durch Grete Siebenschein noch vor dem Hochsommer – als Gretes damals vom Leiden besonders geschärfter Blick die Liebe der Etelka Grauermann schon auf dem absteigenden Aste gesehen hatte. Seitdem aber hatte sich

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