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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Sekunden ihre eigenen Anläufe und Anstrengungen beinahe lächerlich und eigentlich als eine längst überflüssige und auf einen gewissermaßen veralteten Gegenstand gerichtete Bemühung … Unter der Torfahrt drückte sie noch einmal kurz und kräftig Melzers Hand: »Also übermorgen.« Er schied ab von diesem kleinen Hause, als von einem bekannten und vertrauten; die schmale Gasse schräg übersetzend, sah er jetzt im oberen Stockwerk Licht; dort wohnten sie, die Pichlers; und einst hatte der bemerkenswerte Amtsrat dort gewohnt, wie ihm erzählt worden war.
    Nun heim. Es war vollständig dunkel geworden. Der Straßenlärm vollzog sich wie unter irgendeiner Dämpfung, einer Tuchent. Melzers Gehör war jetzt geschlossen, verpfropft. Morgen Edithas telephonischer Anruf, am Nachmittage. All die von ihr gegebene Gewißheit stand süß-pappig in Melzer, als stecke er bis zum Hals in Brei oder als sei er inwärts ganz voll davon. Nach dem üppigen Kaffee mit Schlagobers und Roulad' reizte es ihn wenig, jetzt daheim irgend eine Büchse Sardinen aufzumachen als Abendessen, mit Tee und Brot und Butter. Also ging er am Haustor vorbei und damit auch an seinem leeren Zimmer, wo der Sessel mit dem Gebets-Teppich noch stand, vor dem Wandarm unten rechts beim Kamine. Im ›Beisel‹ saßen schon E. P. und Frau, sie winkten ihm, kaum daß er eingetreten war. Hier roch es würzig und tabaksrauchig. Melzer wollte Bier haben; und irgendetwas Scharfes. Das fand sich: serbisches Reisfleisch, Pilaw. »Wir sind heute wieder über die Strudlhofstiege herunter gegangen, aber diesmal sind Sie uns dort leider nicht begegnet, Herr Major«, sagte der Kleine, »oder kommen Sie etwa gar von dort?«
    »Immer –«, sagte Melzer; aber um jetzt diese etwas unvermittelte Wahrheit zu verhüllen, blieb nichts anderes übrig, als eine kleine Lüge hinterdrein zu schicken. »Immer – wenn ich spazieren gehe – wähl' ich diesen Heimweg. Aber jetzt komm' ich von zuhause. Ich hab' Gäste gehabt.« Es war ja doch die Wahrheit. Aber mit dem Augenblicke, als er jenes seine Lage recht prägnant bezeichnende Wörtchen ›immer‹ als Gegenrede ausgesprochen hatte, erkannte Melzer diese Lage zugleich erstmalig klar bewußt als eine außergewöhnliche, die irgendwohin treiben mußte, zu einem Punkt, den seine Sprache schon wußte, er noch nicht. Solchermaßen sich von dem Ehepaare absetzend, als säßen sie am Ufer, er in einem Boot, aß Melzer mit Appetit. Samstag, den 19. September. Achtundzwanzig Tage nach den Trópois. Aber in's Café ging er diesmal nicht, sondern, nach herzlichem Abschiede vor dem Miserowsky'schen Zwilling, schräg über die Straße und geradewegs heim mit erheblicher Schläfrigkeit. Der Sessel beim Kamine war entfernt, der Gebets-Teppich wieder am alten Platz, man sah den Wandarm. Der Kaffeetisch abgeräumt und zurecht geschoben. Auf dem Kaminsims stand die Roulade, die ja größtenteils noch vorhanden war, in Seidenpapier gehüllt und so gegen Staub geschützt. Hier hieß es rasch schlafen gehen. Die Zimmer forderten durchaus nur dazu auf und zu sonst gar nichts anderem. Im Dunklen, auf dem Rücken liegend, öffnete sich ihm der morgige Tag wie ein glänzender Hohlraum von überraschender Reinheit, ohne jedes Vorhaben: nur das Klingeln des Telephons war darin zu erwarten, am Nachmittage. Diese Vorstellung, die letzte, die er hatte, bei schwindendem Bewußtsein, wirkte tief in Melzer hinein, wie ein Prägstempel. Keine Wände bogen sich. Keine Riegel knackten. Man kann sagen, Editha war in ihm nur vertreten, sie war nur vertretungsweise anwesend (wie Frau Rosa Zihal im Gärtchen) mit ihrer ganzen Gewißheit.
    Er schlief gut und durch. Wie man einschläft, so wacht man auf; und wie man aufwacht so ist der ganze Tag (wie soll sich da also jemals etwas ändern?!). Bei Melzer entsprach dieser Sonntag dem gestern im Einschlafen angeschlagenen GrundAkkorde vollends. Nach der Messe kein Spaziergang. Er ging gleich heim, trotz des im ganzen eher heiteren Wetters, als hätt' er Klausur, als fühlt' er sich zu dieser schon am Vormittage verpflichtet. Obendrein sagte ihm Frau Rak, daß er mittags nicht ausgehen müsse, wenn er lieber zu Hause bliebe, sie habe was Gutes für ihn, Gansbraten. Vor Tische wurmisierte Melzer in seinem Zimmer, zog den Gebets-Teppich zurecht, der doch nicht ganz in der richtigen Weise aufgehängt worden war. Und hier, in der Ecke, linker Hand vom Kamin, standen seine wenigen Bücher, vielleicht zehn oder zwölf: ein

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