Die Strudlhofstiege
aufblitzenden ersten Lichtern – und dann nach links; beim Palais, bei jenem, das die berühmte Bildergalerie enthielt, kreuzten sie die Straße und standen noch ein wenig vor dem Haustor, eben dort, wo Melzer vor zehn Tagen, nach Mariä Geburt, jenen befremdlichen Wechsel der Beleuchtung im Innern erlebt hatte, den hochfliegenden Lichtschein, schon ohne jeden Bezug zu dem, was da wirklich vorging. Als Thea verschwunden war, betraten Paula und Melzer den alten Stadt-Teil Liechtenthal. Mit dem Schritt hinab in eine tiefere Schicht des Gewesenen ganz im allgemeinen taten sie auch einen solchen in ihre persönliche Vergangenheit. Doch eben vorher vergewisserte sich die Pichler noch der allernächsten Zukunft: »Werden Sie sicher kommen, wenn die Thea und ich am Montag-Nachmittag ein wenig spazieren gehen unten an der Lände gleich bei der Brigitta-Brücke?« (So war's vereinbart worden; Paula gebrauchte für diese Brücke noch immer den alten Namen.) »Gleich rechts von der Stadtbahn-Station führen die Treppen zum Ufer hinunter. Dort werden wir sein. Zwischen vier und fünf. Aber ob Sie so zeitig vom Amt wegkönnen?« – »Ich glaub' schon«, sagte Melzer. »Wir werden bis gegen viertel nach fünf bleiben.«
»Viel später als fünf komm' ich bestimmt nicht«, sagte Melzer, »wahrscheinlich aber viel früher.« Gleich darauf sagte Paula, daß René Stangeler ihr damals im Jahr 1911 erzählt habe, wie es zu jener Szene auf der Strudlhofstiege gekommen sei: die Geschichte mit dem Badezimmer, während eines Festes; und von der Freundin eines Fräulein Ingrid – so habe doch die Haustochter dort geheißen – durch welche sie verraten worden sei; auf den Namen der Freundin könne sie sich nicht mehr besinnen. Ob sie nicht Edith geheißen habe? »Ja«, sagte Melzer, »Editha Pastré.«
»Ja!« rief die Pichler, »was ist denn aus der später geworden?« »Sie hat einen Ministerialbeamten geheiratet, einen Herrn Schlinger«, sagte Melzer, »ist aber längst wieder geschieden.« Sie befanden sich jetzt gar nicht weit vom Haus ›Zum blauen Einhorn‹ und waren stehen geblieben. »Sehen Sie diese Frau Schlinger noch?« fragte Paula. »O ja«, erwiderte Melzer, »und gar nicht selten.«
»Da muß ich Ihnen etwas sagen, Herr Major: diese Dame gibt es zweimal.«
»Das ist sehr treffend«, sagte Melzer, »das könnte vom René sein. Sie macht wirklich diesen Eindruck. Zwei verschiedene Menschen unter derselben Haut, aber nicht ganz zusammengeheilt. So ein feiner Riß heilt wahrscheinlich nie, wenn in jemandem zwei verschiedene Grundstoffe benachbart sind, da kommt es zu keinem Heil- und Geschlossensein mehr.« (Also: unser Melzer ist Zivilist geworden; derlei gibt's überhaupt nur im Zivil-Verstand; aber – er wunderte sich doch über seine eigenen Ausdrücke, die jetzt auch schon außerhalb des Melzerischen ›Denkschlafes‹ Macht gewannen; ja, es war, als zöge ihn die Sprache, die er fand, hinter sich her und in ein neues Leben hinüber: die Sprache stand vor seinem Munde, schwebte voran, und er folgte nach.) »Nein«, sagte Paula. Sie nahm sich zusammen, es war wie ein Anlauf: »Es gibt sie wirklich zweimal, ich meine körperlich. Ich habe es selbst gesehen. Der René hat mich darauf aufmerksam gemacht, am Westbahnhof.«
»Der René«, sagte der Major beiläufig, »ja, der sieht sozusagen oft, was eigentlich da sein sollte, möcht' ich fast sagen, das kann ich mir in diesem Fall schon sehr gut denken. Natürlich ist er auch ein bisserl Phantast. Aber gewissermaßen nicht mit einer verschwommenen oder verträumten, sondern mit einer genauen Phantasie – wenn man sich etwas von dieser Art vorstellen kann.«
»Aber Herr Major«, sagte Paula – jedoch diesem letzten Anlauf fehlte bereits die Kraft – »eine Ähnlichkeit war das von einer Art, das läßt sich gar nicht beschreiben …« – »O ja, das gibt's«, sagte Melzer. Sie waren weitergegangen. Was er jetzt erkannt hatte – immer mit der Sprache voran, sozusagen als mit seinem neuesten und fortschrittlichsten Organe – das leuchtete ihm wie ein Licht an der Stirn, wie die kleinen Lampen mit dem Spiegel, welche von den Ärzten gebraucht werden. Die Wahrheit in den Worten Paulas überblendete völlig jede Frage nach der Richtigkeit ihrer Beobachtungen oder Angaben, ja, das Ganze leuchtete Melzern ein wie eine schlüsselhafte Erklärung, die von Stangeler stammte, von Paula Pichler nur weitergegeben worden war. Dieser indessen erschienen jetzt schon nach wenigen
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