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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Mary um Lea Fraunholzer nicht gekümmert, jedenfalls nicht faktisch und praktisch. Kein ausführlicher Brief war geschrieben worden. Und wenn schon in einem solchen Eindringlichkeit nicht wäre zu erreichen gewesen: welches Hindernis hatte sich aufgerichtet, einfach im Laufe des Hochsommers einmal nach Gmunden zu fahren, die Kinder etwa in Velden am See allein zu lassen? Diese so gut wie erwachsenen und vernünftigen Kinder. Welches Hindernis? Gar keines. (Über der Halskrause. Unter diese sah Mary nicht mehr. Heute schon garnicht. Jene schien mit ungemein vergrößertem Durchmesser dem Horizont gleichgeworden zu sein). Sie erkannte chockartig ein tief Befremdendes, ein Außerordentliches: unbenutzten Raum, nicht gebrauchte Freiheit, vom richtigen Einfall nicht beleuchtetes Terrain. Es war vorhanden gewesen. Sie hatte es nicht betreten, die vielleicht einmalige Möglichkeit nicht entschlossen ergriffen. Vielleicht hätte sie sogleich nach dem Gespräche mit Negria vor acht Tagen sich aufmachen und nach Gmunden fahren sollen.
Dies alles sprang ihr nacheinander in Sekunden durch den Kopf, bis zu der letztgenannten Vorstellung, also bis hart an den Rand eigentlicher Übertreibung. Obendrauf aber, wie ein scharfer Punkt auf 's i, setzte sich die Tatsache, daß René Stangeler am Mittwoch von Etelka dringend gerufen, in familiären Angelegenheiten plötzlich nach Budapest hatte abreisen müssen. Das war Mary knapp vor ihrer Fahrt nach Rekawinkel von Grete Siebenschein noch erzählt worden: beim Haustor, neben dem Wagen. In Budapest mußte also irgendetwas los sein. Vielleicht ging's bereits drunter und drüber. Unter alledem rief sie, zweimal die Worte wiederholend:
»Ich muß dich sprechen. Ich muß dich unbedingt sehen, Mädi.«
Dies war nun das erste, was sie am Telephon zu der Generalkonsulin sagte.
»Auch ich will dich auf jeden Fall sehen, Mary«, ließ sich diese mit Nachdruck hören, soweit ein solcher aus ihrer fernen und weichen Stimme gefühlt werden konnte. (Mary gab ärgerlich dem Apparat schuld oder irgendeinem Mangel in der Verbindung, aber es war jedes Wörtchen mühelos und klar zu verstehen.) »Es fragt sich nur, wann und wie. Ich bin gestern spät abends angekommen und werde heute am Abend weiterfahren.«
»Wohin?« rief Mary.
»Nach Belgrad«, sagte Lea.
»Direkt?!« rief Mary (das war wie eine Eingebung).
»Ja – wahrscheinlich. Das heißt – ich weiß es eigentlich so genau noch nicht. Vielleicht unterbreche ich in – Budapest.« Sie verhielt ein winziges Zeit-Teilchen lang vor dem letzten Wort.
»Was willst du in Budapest machen?!« rief Mary. Sie vermochte nicht ihre Stimme zu dämpfen. Sie hatte geradezu die Macht über diese verloren. Die ihr wohlvertraute, immer sehr zurückhaltende Redeweise Leas erzeugte diesmal bei ihr ein Nachdrängen und Nachdrücken, als wollte sie die Freundin dazu zwingen, für diesmal und ausnahmsweise die eigene Art aufzugeben, welche Mary plötzlich so verfehlt angebracht erschien wie noch nie; sie ließ sich an, als wollte sie Lea aus deren Eigenart gleichsam heraustreiben. Die naturgemäße Aussichtslosigkeit und Unmöglichkeit solcher Bemühung trieb Mary selbst jedoch in einen kaum mehr zu bemeisternden Grad von Ungeduld hinein.
»Ich werde vielleicht mit Etelka Grauermann sprechen«, klang es sanft und wie träumend (wie tiefe, weiche, in Buchten liegende Schatten).
»Das wirst du nicht tun, Lea!« (Plötzlich sagte sie ›Lea‹ statt ›Mädi‹). »Das wäre das Verkehrteste, was du überhaupt tun könntest. Außerdem bin ich darüber unterrichtet, daß dort unten bei Grauermanns gerade jetzt sozusagen irgendein Wespen-Nest ist. Etelka hat ihren Bruder aus Wien kommen lassen, er mußte sofort abreisen. Ich kenne zufällig seine Braut, von der hab' ich's am Donnerstag erfahren. Weiß Robert, daß du nach Belgrad zu ihm kommen wirst?«
»Ja. Er hat mich gerufen.«
Mary setzte aus. Sie sagte nichts. Dann:
»Robert ist also bestimmt nicht in Budapest?«
»Nein. Der Robert erwartet mich ja in Belgrad. Sein Telegramm ist vom Freitag-Vormittag, am Samstag hab' ich's erst bekommen und gestern bin ich gefahren.«
»Wärst du doch am Samstag schon gefahren! Da hätten wir mehr Zeit gehabt«, rief Mary.
»Ich wollt' ja auch. Aber die Kitty (so hieß des Generalkonsuls Tochter) ist eben vom Institut über das Wochenende einmal da gewesen und hat sich so gefreut, bei mir zu sein. Ich hab's nicht fertig gebracht, ihr davonzufahren. Und die Sachen für Robert und das

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