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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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zum Klavier«, sagte Frau Mary nach einer Weile.
    Die Siebenschein tat's mit Bescheidenheit. Ihr nicht geringes und jedenfalls berufsmäßiges Können wurde von ihr niemals in's Feld geführt. Sie griff auf dieses Depot, das sie aber immer wieder pflegte, innerlich nicht zurück: seit Norwegen auch äußerlich nicht mehr. Mary hörte, wie Grete im Nebenzimmer den Deckel des Instrumentes aufklappte. Sie erhob sich, einer Art von Zwang folgend, und trat gegen das Fenster zu. Am Klaviere blieb es noch still. Fern dort, am Ende der Gasse, rollte langsam und lautlos ein Wagen über die Fahrbahn; ein zweiter; ein dritter; in kleinen gleichen Pausen. Jenseits des Kanales drüben, über den Baumkronen, standen Reihen von Fenstern in Weißglut des Widerscheins, da und dort schon gerötet.
    Das Klavier schlug klar und korrekt an.
    Wieder spürte Mary den Duft des Heliotrop. Das kam aus ihrer Wäsche, es setzte sich durch, obgleich ein anderes Parfum nachher von ihr verwendet worden war.
    Die Türklingel ertönte.
    Mary sah auf die Uhr: es war acht Minuten vor halb sechs.
    Nebenan brach das Klavierspiel ab.
    Man hörte eine helle Stimme. Nicht die Maries … Sogleich trat Marys Tochter ein, hinter ihr das Mädchen, das eine vierte Teetasse brachte. Aus dem Nebenzimmer kam Grete hervor.
    Es beweist die Gerechtigkeit und Gutartigkeit Marys, zugleich freilich die Zärtlichkeit, welche sie für ihr Kind stets bereit hatte, daß sie auch jetzt sich bei dessen Anblick vor allem einmal freute: mochte auch durch das nicht erwartete Erscheinen der Tochter eine augenblicklich unübersichtliche, dabei von Minute zu Minute drängendere Lage geschaffen sein. Denn wenn Stangeler jetzt einträfe, könnte man ihn keinesfalls gleich beiseite nehmen und zum Reden bringen – ohne das eigene Interesse an dieser Sache deutlich werden zu lassen. Mit ihrer Tochter allerdings hätte Mary sich unschwer verständigt, durch einen Wink. Aber schon saß man zu dritt am Teetische, und wenn Stangeler jetzt etwa eintrat, dann war diese Situation schwerlich so bald und rasch auflösbar. Er mußte gleich zwei ihm unbekannten Damen vorgestellt werden und würde es vielleicht überhaupt vorziehen, die Neuigkeiten, die er wußte, seiner Grete etwas später und ein Stockwerk tiefer zu erzählen. Alle diese Überlegungen Marys wurden von der Oberfläche und Außenseite her gestört durch das Gespräch, welches man führte, zunächst den Anlaß für das unerwar tet frühe Erscheinen der jungen Dame betreffend: ein ganzer Schwarm hatte die Absicht gehabt, einer Film-Premiere beizuwohnen; jedoch erwies sich dabei ein Mißverständnis: denn das, was jene alle miteinander sehen wollten, hatte ganz und gar nicht das Interesse von Marys Tochter (ein Stück, in welchem lauter vorsintflutliche Drachen vorkamen, es war nach einem Buche des englischen Schriftstellers Conan Doyle hergestellt). So war sie denn heimgegangen. Die Siebenschein betrachtete das junge Mädchen mit Wohlwollen, ja mit Bewunderung. Diese noch nicht fünfzehn Jahre, die wie mindestens achtzehn wirkten, schienen angeordnet um ein Maß als Mitte, das eine für solches Alter kaum vorstellbare Sicherheit spüren ließ, ja geradezu ausstrahlte. Man hätte selbst wünschen können, davon noch was abzubekommen.
    Stangeler blieb aus.
    Die Klingel schlug nicht das erwartete blitzende Sternchen in den leeren Raum.
    Mary räumte ein Feld, das zu kompliziert geworden war. Nun allerdings schon in größter Eile.
    »Ich muß jetzt gehen, es bleibt nichts anderes übrig, Greti«, sagte sie im Aufstehen. »Bleibt doch ruhig hier beisammen sitzen und laßt euch gar nicht stören.«
    Aber auch Grete erhob sich.
    »Sie müssen mich vielmals entschuldigen, aber ich erwarte unten jemanden«, sagte sie herzlich zu dem jungen Mädchen, das gleichfalls aufgestanden war. In den dunklen Augen unter dem rötlichen Haar glänzte ein weit perfekteres Wissen um den anderen Menschen, als es mancher Erwachsene und Ausgewachsene auf der Höhe des Lebens erreicht. »Ja freilich«, antwortete sie leise. Mary war in's Schlafzimmer verschwunden. Sie war entwichen, müßte man sagen. Während sie vor dem Spiegel den Hut aufsetzte (die kleine süße Toque! und wie wunderbar kleidete die mit ihren Jabots über dem blauen Stoff der Kostümjacke leicht hervorbauschende fleischfarbene Bluse unsere schöne Frau!) – während sie also den Hut aufsetzte, empfand sie die große Wohltat und Erleichterung, welche darin liegen kann, allein zu sein.

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