Die Strudlhofstiege
Aber dieser verhielt sich wirklich nur wie ein solcher, wie ein Hauch zu jenem soliden Fundament.
»Ich erwarte ihn ab fünf Uhr.«
»Und was ist los in Budapest?«
»Ich weiß es nicht. Er hat nur gesagt, am Telephon, daß er mir mündlich alles erzählen wird.«
»Ja«, antwortete Mary, »solche Sachen sind auch für's Telephonieren wirklich zu kompliziert, da hat er schon recht.«
Mary überlegte jetzt – und der Gedankengang lief so klar, ja perlend ab, daß er ihr wie ein Fremdes erschien, nicht wie von ihr selbst, und gleichsam über ihr befindlich, wie die reine Essenz des Bestmöglichen – sie überlegte also, daß man René Stangeler hier heraufkommen lassen könne, um sich mit ihm und Grete vorne an den Teetisch zu setzen. Was sie dort erfahren würde, wäre ohneweiteres und ungestört hier vom Schlafzimmer aus an Lea zu telephonieren, wenn es sich als erheblich erwies. Der Besuch in Döbling mochte dann immerhin unterbleiben: wichtiger war unter allen Umständen die Übermittlung jener Nachrichten, die René bringen würde: deren vorzeitige Kenntnis konnte für ›Mädi‹ in Belgrad gleich nach der Ankunft von entscheidender Bedeutung werden. Freilich: sie kannte René Stangeler nicht eigentlich persönlich. Jetzt erwies es sich als Hindernis, daß sie Grete nie die Möglichkeit gegeben hatte, ihn einmal zu ihr mitzubringen: obwohl das immer deren Wunsch gewesen war, unschwer zu fühlen und zu erraten. Aber auf diesem Ohre hatte Frau Mary K. nicht gehört, sondern sich in solchen Fällen durch distanzierende Ablenkung von dem ganzen Thema stets davor geschützt, eine Verbindung, die sie für unglücklich und verfehlt hielt, gleichsam im eigenen Hause zu sanktionieren.
Ein viertel vor fünf schon vorbei.
Nun galt's.
»Es geht bald gegen fünf«, sagte sie zu Grete und tat ihre letzten Gänge kreuz und quer im Zimmer.
»Gehst du aus?« fragte die Siebenschein.
»Ja, etwas später«, antwortete Mary und schlüpfte aus dem Schlafrock. »Ich mach' mich aber jetzt schon fertig. Bleib' nur ruhig bei mir, wir trinken noch Tee. Bei euch unten ist doch sicher wer daheim, der dem René aufmacht. Weiß man, daß du hier heroben bist?«
»Unten ist niemand zu Hause«, sagte Grete. »Aber ich habe einen Zettel an die Tür gegeben, daß René auf mich warten soll.«
»Vor der Türe?«
»Warum nicht?«
»Ist René eigentlich pünktlich?« fragte Mary.
»Ja«, sagte Grete. »Nahezu immer. Diesmal allerdings hat er im voraus erklärt, nicht pünktlich sein zu können. Es ist irgendeine Besprechung mit Verwandten oder dergleichen, ich weiß nicht was da los ist, jedenfalls hängt er dabei, was die Zeit betrifft, von anderen ab.« Na also, dachte Mary. Dann laut:
»Geh, laß doch den Burschen nicht, wenn er dann kommt, vor der Türe unten stehen. Gib dort einen Zettel hin, er soll hier heroben anläuten. Ich werd' ihn dann zum Tee bitten, da kann er dir gleich alles erzählen. Oder glaubst du, daß er's nicht wird tun wollen, wenn ich dabei bin? Er weiß doch, daß ich deine Freundin bin, auch wenn er mich nicht eigentlich kennt, oder nur dem Namen nach. Am Ende bin ich selbst schon neugierig, was da in Budapest los war.«
»Er wird alles erzählen, wenn ich ihm sage, daß er's ruhig tun kann.«
»Dann geh doch gleich hinunter und gib einen anderen Zettel hin. Warte hier!«
Sie reichte ihr Block und Stift.
Grete schrieb: ›L. R. bitte läute bei K. an, einen Stock höher.‹
Sie ging. Sie war wirklich erfreut. Und doch:
Sie stand unten vor ihrer eigenen Wohnungstür und las dort angeschlagen, was sie eben vor einer Viertelstunde erst geschrieben hatte.
Merkwürdig: es wurde einem unmöglich gemacht, einen vernünftigen Vorsatz auszuführen!
Indessen vollendete Frau K. oben ihre Toilette und wies nebenbei die Marie an, drüben für drei den Teetisch vorzubereiten. Daß von den beiden Kindern jetzt keines voraussichtlich nach Hause kommen würde, fügte sich passend: der Bub war in seinem spanischen Sprachkurs und das Mädel wurde heute gleich von der Handels-Schule abgeholt und war vor acht Uhr kaum zu erwarten. Die Anwesenheit Gretes im Schlafzimmer während der Vorbereitungen zum Ausgehen war von Frau Mary eigentlich störend empfunden worden: sie liebte es im Grunde gar nicht, wenn man dabei sie ansprach oder ihr im Wege war, während sie vom Wäscheschrank zum Kleiderkasten und von da zu den Hutschachteln eilte. Aber heute war diese ihre Empfindung des Gestörtseins überdeckt geblieben von der
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