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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Bemühung, eine ihr wichtige Möglichkeit am Zipfel zu erwischen, am letzten eigentlich; und doch hatte das vorsichtig, wie mit einer Pinzette geschehen müssen.
    Nun trat Grete wieder ein.
    Mary war fertig.
    Der Tee gleichfalls. Sie gingen hinüber.
    Es war fünf Uhr fünf Minuten geworden.
    Jetzt freilich mußte sich's bald entscheiden, ob sie hier bleiben oder nach Döbling fahren sollte.
    Sie lenkte alsbald das Gespräch von René und von Budapest ab. »Ich war heute vormittags in der Stadt«, sagte sie, »ohne irgend etwas ausrichten zu können: überall war's zu spät oder zu früh. Hutstumpen hab' ich bekommen, früher als erwartet eigentlich, dafür war die Modistin plötzlich krank und das Geschäft geschlossen. Und den Herrn von der ›Estudiantina‹ hab' ich nicht angetroffen. Der Bub war tief enttäuscht mittags.« »Es gibt solche Tage«, sagte Grete. »Man hat am ganzen Körper lauter linke Hände. Was macht das Klavier, Mary? Ich hör' Dich sehr selten mehr spielen.« 
    »Leider«, antwortete sie.
    Eine Pause entstand, sogar eine lange. Es war, als machte sich das viele Ungesagte bei Mary nun erst recht breit, in anonymer Weise: alles andere an die Wand drückend. Die Stille wuchs erheblich, stieg wie Wasser, bis zum Hals, bis zum Ohr, darin sie jetzt mit einem inneren Summen stand. Das Heliotrop aus dem tiefen, kühlen, sauberen Wäscheschrank kehrte nun wieder. Es wäre vielleicht gut, Lea sogleich und auf jeden Fall schon telephonisch anzurufen, ihr von der bestehenden Möglichkeit einer Verspätung zu sagen und auch von deren Grund, nämlich: worauf sie, Mary, hier augenblicklich warte. Es hatte jetzt auch keinen Sinn, auf die Uhr zu sehen. Die Stille des Heims, die spiegelnden Polituren der Möbel, der saubere Duft überall herrschender und jede Ecke beherrschender Ge pflegtheit, das alles erzeugte in Mary eine Art Schmerz, der dem Abschieds-Schmerze bei einer Trennung nicht ganz unverwandt war. Aber sie konnte hier doch nicht bleiben. Sie fühlte sich in Wahrheit jetzt gar nicht fähig dazu.
    »No ja«, sagte sie, »aber wenn es äußerlich nicht recht zusammengehen will, so kann das ja nicht nur an meiner Ungeschicklichkeit liegen, sondern auch an den Umständen. Was haben meine linken Füß' damit zu tun, daß die Modistin plötzlich krank wird oder daß der Sekretär eines spanischen Studentenklubs an demselben Vormittag keine Sprechstunde hält, sondern sein Hotel früher verläßt als sonst? Da kann man halt nichts machen. Aber mit den zahlreichen eigenen linken Füßen – damit kann man schon fertig werden, wär' nicht schlecht! Zum großen Teil sind solche Sachen immer Einbildung. Da heißt's einfach, mit dem rechten Fuß fest auftreten.«
    »Der René sagt das Gegenteil«, bemerkte Grete.
    »Und ist das bei ihm nicht eine Ausrede?«
    »Wofür?« sagte Grete, aber durchaus sanft. Ihre Stimme vermochte manchmal sehr tief zu klingen, wie Bratsche oder Violoncello.
    Mary dämpfte sogleich ab:
    »No ja – ich mein' nur …wenn ich dieser Anschauung wirklich wär': dann bestünde, bei mir wenigstens, schon die Gefahr, daß ich mich gehen ließ', bei jeder Gelegenheit, und einfach meiner Faulheit nachgeben würde.«
    »Aber Mary!« sagte die Siebenschein lachend, »Du bist doch nichts weniger als faul!«
    »Jeder Mensch ist faul«, entgegnete Mary gemütlich: Ton und Gesichts-Ausdruck dabei waren unwiderstehlich einnehmend: klug und offen. Wahrhaft, auch sie war das äußerste Ge genteil einer dummen Gans, nicht nur unsere Siebenschein! In deren ebenmäßigem Antlitze hatten sich vor wenigen Augenblicken noch jene Gegensätze sanft gespannt (einfach und echt empfunden, aber keineswegs polemisch gesteigert, ohne Sucht nach Entscheidung), die ihre ganze Welt seit Jahren durchzogen, in jedem Stockwerk, im oberen wie im unteren; und gerade wenn René abwesend war, vertrat sie ihn oft auf den verschiedensten Ebenen: dabei mitunter zwischendurch und fast schmerzhaft erkennend, wie sehr sie schon die Seine geworden war. Es ging so weit, daß man aus ihrem Munde Äußerungen hören konnte, denen sie heftig widersprochen hätte, wären ganz die gleichen von dem anwesenden René Stangeler getan worden. Betraf sie sich aber selbst bei solcher Vertretung, dann konnte es geschehen, daß sie erschrak. So auch vorhin beinahe, obgleich sie Renés Meinung dieses Mal ja als solche angeführt hatte: aber nicht selten trat jene auch schon wie eine eigene auf ihre Lippen.
    »Bitte, Greti, setz' Dich ein wenig

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