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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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mitten in den Verlauf des Tages hineinsetzt, dessen Runzeln neuerlich glättend, schien der Frau Mary die Wahrscheinlichkeit doch nicht groß, daß Lea sich etwa wirklich würde einfallen lassen, in Budapest auszusteigen und ihre Reise nach Belgrad zu unterbrechen, um in Pest eine Art von Auseinandersetzung oder gar, Abmachung der Sachen mit Etelka Grauermann zu suchen, eine endgültige Bereinigung zwischen dieser und ihr, und so den erklärten Beginn einer neuen Epoche in der Ehe mit Robert: die Naivität ›Mädis‹ überstieg wahrhaft alle Grenzen, und in dieser Hinsicht durfte man ihr viel, ja alles zutrauen: auch, daß sie gleichsam eine schwankende Waage lieber vom Tische warf, als sie genau zu beobachten und das richtige kleine Gewicht dorthin zu legen, wo es eben fehlte! Diese Biederen! Diese Ehrenmänner in Frauenröcken! Grete war auch so eine! Mit ihnen freilich machen die Haderlumpen, was sie wollen. Nun, Lea würde in Budapest nicht aussteigen. Einmal schon mußte dieser Nachtzug dort zu unmögli cher Stunde einlaufen, was allein ›Mädi‹ in ihrem Coupé zurückhalten konnte, zu ihrem größten Vorteil: Stockfinsternis, fremde Stadt (ob Lea überhaupt die Budapester Adresse der Grauermanns wußte? – nun, allerdings gab es ein Telephonbuch!). Dann aber, und vor allem: sie hatte Lea darüber informiert, daß zur Zeit bei Grauermanns irgendwelche abnormalen Verhältnisse bestünden, ein Skandal oder dergleichen in Gang gekommen sei, ein Zustand wie in einem WespenNest herrsche. Sie hatte ›Mädi‹ gerade das am Telephon unter Nennung ihrer Quelle und mit besonderem Nachdrucke wissen lassen: und jetzt empfand sie die größte Befriedigung darüber, daß sie's getan. Es mußte unzweifelhaft wirken. Durch eine winzige Zeitspanne – während sie schon im Schlafzimmer zwischen geöffneten Schranktüren hin und wider schritt, das blaue Kostüm herausnahm, den entsprechenden Hut (eine ganz kleine Toque mit kurzem Reiher, sie stand ihr vortrefflich!) – in wenigen Augenblicken, während solcher Geschäftigkeiten, öffnete sich gleichsam eine Vertiefung unter ihr, durch welche jetzt alles, was sie eben betrieb, ihr fast entfallen wollte: die Fahrt nach Döbling, um dort eine halbe Stunde mit Lea zu sprechen, erschien ihr im Grunde (am Grunde der Vertiefung oder Einsenkung unten) als überflüssig. Besser könnte sie nichts mehr machen bei ›Mädi‹, vielleicht jedoch schaden, durch Erregung des Widerspruches bei diesem großen Schulmädchen, welches da vermeinte, man vermöchte den zähen und zugleich gefährlich explosiven Brei des erwachsenen Lebens noch immer mit dem einfachen Papplöffel der Kindertage hinunterzubringen … Mary war stehen geblieben. Bei dem Wäschekasten. Duft hauchte sie an, Heliotrop, alt, seit wieviel Jahren in diesem Schranke wohnend!
    Nein! raisonnierte sie alsbald, die Gelegenheit mußte ausgenützt werden, mit Lea noch einmal zu reden. Es wär' ja unverzeihlich!
    Jetzt schoß ein anderes ein, Meteorit, Einfall. (Der ihr die ganze Zeit gefehlt – nun wußte sie's! Daran also hatte sie eigentlich gedacht, eben das meinte sie ja die ganze Zeit hindurch!) Man müßte wissen, ob dieser Stangeler schon von Budapest zurück und was dort unten eigentlich los sei! Dies war in Erfahrung zu bringen, gerade dies! – und freilich noch vor dem Gespräch mit Lea.
    Sogleich tat sie die drei Schritte zum Telephon, das beim Bette stand, schaltete den Apparat zum Sprechen ein (und damit den drüberen, im Frühstückszimmer, aus) und begann die Siebenschein'sche Nummer zu wählen. Grete war um diese Zeit fast immer daheim.
    Es klopfte.
    Ein biederes Antlitz mit klassischen Zügen, von ebenholzschwarzem Haare umrahmt, sah durch den Türspalt.
    Sie umarmten und küßten einander. »Wie war's in Rekawinkel?«
    »Na herrlich – man hat mich grenzenlos verwöhnt. Wie bist du hereingekommen jetzt, ich hab' nicht läuten gehört?« 
    »Die Marie hat grad' herausgeschaut.«
    »Nun, wie geht's dir, Greti? Ist dein René schon zurück?« Das kam um keinen Strichbreit interessierter heraus als eine teilnehmende Frage, die sich freilich auf jenen Gegenstand richten muß, den man als des anderen Hauptsache kennt. Die eingealteten Fundamente absolut dichter Verschwiegenheit in bezug auf alles, was Mary indirekt mit Stangelers Schwester verband, hielten ohne zu zittern, in der Gewohnheit und ihren Automatismen längst verankert. Und jetzt war auch noch ein Schleier bewußter Achtsamkeit darüber gebreitet.

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