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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Allein zu sein, wenn man sich ordnen, wenn man überlegen muß, wenn man sich in Eile befindet, wenn man zwischen offenen Schränken hin und her geht, oder mit dem Aufsetzen eines Hutes beschäftigt ist. Sie gewann verlorenes Terrain in diesen wenigen Minuten. Ja, fast schon wollte sie die Arme sinken lassen, ein wenig tiefer atmen, ein wenig hier verziehen noch – sich setzen? Hier stand ein Stuhl beim Bett. Die Abendsonne war schon im letzten Rückzug aus dem Raum. Sie hätte doch wohl eine oder zwei Minuten zugeben können. Aber Frau Mary gestattete sich solches nicht; oder höchst selten nur. Sie war vernünftig. Es kam in Jahren nur ein oder das andere Mal vor, daß sie sozusagen innerlich bockte, daß sie ausbrach. Dennoch, jetzt eben, im Zurechtsetzen des Hütchens, war spinnwebenfein etwas in ihren Händen und um dieselben, wie eine Schicht, eine Hülle, die irgendwie vom bequemen und richtigen Zugriff trennte. Eine Sekunde lang, wie ein Einbruch, ein Einsturz, öffnete sich in ihr die Möglichkeit zu einer Art von Panik, zum Verlust der Kontrolle: und sie sah diese Möglichkeit dabei schon weiter vorgeschritten und entwickelt, als sie geahnt hatte. Ihre Hände waren erfüllt von etwas Fremdartigem und Unbesieglichem, das entfernt auch mit verhängten Zügeln konnte verglichen werden. Nun war sie fertig, durchaus in Ordnung, und verließ das Schlafzimmer. Draußen wartete schon Grete. Das war gut so gewesen: jetzt aber schon wieder zu viel, die Anwesenheit anderer Menschen nämlich. Denn auch die Marie trat heran: »Um sieben Uhr bin ich wieder daheim«, sagte Mary. Grete hatte die Tür in's Stiegenhaus schon geöffnet und war hinausgetreten. Mary folgte, verhielt dann einen Augenblick lang und sah, sich energisch sammelnd, auf ihr Ührchen am Handgelenke. Dieses ging immer genau: und rückte eben gegen zwanzig vor sechs. Sie dachte jetzt, während sie rasch auf die Stufen zuschritt, gefolgt von Grete, an den Wulst im Läufer, über welchen sie vormittags gestolpert war, und achtete bei dieser Stelle – zwischen ihrem eigenen und dem Siebenschein-Storch'schen Stockwerk – ein wenig darauf: aber der Portier hatte den Teppich inzwischen schon wieder glattgezogen, vielleicht auf irgendjemandes Beschwerde hin. Sie gab Grete, die jetzt zurückblieb, munter die Hand. Nun wurde ihre Eile freier, geläufiger: sie trappelte rasch, eilte durch das etwas prunkvoll-pastose Vorhaus. Schon auch blieb die kleine Glastür hinter ihr, welche sich in dem schmiedeeisernen Gitter des hohen Portales – ebenso schnörkelig wie jenes – öffnete. Mary zog rasch und schräg über den hier boulevard-artig breiten Gehsteig. Noch war ihr der Abendschein entgegen. Sie blinzelte und sah gegen die Mitte des Platzes, welche sie nun erreichen und kreuzen mußte: sei es, um zu ihrer Straßenbahnhaltestelle zu gelangen, oder drüben beim Bahnhof überhaupt gleich ein Autotaxi zu nehmen, wie sie eben erwog.
    Der Straßenverkehr war nicht nur auf den Trottoirs zur größten Lebhaftigkeit gesteigert; und hier tat auch die Nähe des Bahnhofs das ihre. Mary stand am Ufer dieses Sees von Verkehr, darin die rot-weiße Straßenbahn noch das bescheidenste war, die Fülle der Kraftfahrzeuge aber am meisten Aufmerksamkeit erforderte. Sie fühlte freilich die Nötigung, hier gesammelt und planvoll vorzugehen, vor allem aber unter dem Schutze der allgemeinen Regelung. Jedoch, sie erfaßte das gewissermaßen nicht klar genug, sie umfaßte es nicht. Es drängte sie nur ein wenig noch auf den Gehsteig zurück, während gleich danach, als eine unvermutete Eigenmächtigkeit ihrer Glieder, als Welle von unten her durch den Körper laufend, schon der Start erfolgte: die Füße eilten weiter, wie eben vorhin auf der Treppe, ein Schritt gab den anderen. Nun war sie mitten darin, sozusagen bereits im Gefechte. Hier zurück, dort vor, jetzt Halt. Jemand rief ihr von einem Lastwagen was zu. Nun wieder vorwärts. Ein Straßenbahnzug fuhr gegen die Alserbachstraße hinauf, mit einem ganz altmodischen kleinen Anhänger der stark schaukelte. (›Fahrbarer Untersatz‹ hätte das der Rittmeister von Eulenfeld genannt.) Aus der rückwärtigen Plattform und über dieselbe hinaushängend wuchs ein Fahrgast, dessen prangende Figur, noch dazu in hellem beige-farbenen Anzüge, keineswegs im richtigen Verhältnis stand zu dem sehr bescheidenen Gefährt, zu welchem überhaupt nur kleine und verhutzelte Insassen gepaßt hätten. Er sah mit einem kühnen und grundlosen

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