Die Strudlhofstiege
die Hände zum Hütchen erhoben. Mimi rührte sich nicht auf dem Diwan. Sie lag mit angezogenen Knien und aufgestütztem Ellenbogen, vor sich hin gleichsam in irgendetwas hineinschauend. »Im Grunde ein ebenso undurchsichtiges Wesen, wie Enrique«, dachte Eulenfeld, Mimi mit dem Blicke streifend, »passen zusammen.« Dann laut:
»Nu wär's dir bald am liebsten, der Melzerich tät' ausbleiben, was, Edithchen?«
Sie antwortete nichts. Sie war müde. Bei erloschenem oder mindestens sehr gedämpftem Widerspruchsgeiste wurde ihr im Augenblicke allzu anschaulich, wie richtig Eulenfeld in die abrupte und sprunghafte Mechanik ihres Wesens einsah und in das gewissermaßen Dilettantische von allem und je dem, was sie trieb, mochte es auch noch so klug und gerissen sich anlassen und für's erste ansehen; sie stand's nicht durch. Ja, schon ihre Ziele, die sie wählte, waren in irgend einer Weise dilettantisch und nicht nur der Weg, welcher da im letzten Stücke stets abbrach. Sie war keineswegs dumm genug dazu, die Editha Schlinger (Editha Schlinger vom Pastré und Wedderkopp in spe), um auf dem Grunde einer Müdigkeit oder Depression nicht auch ein Stück Selbsterkenntnis vorzufinden. Die Vorstellung, jetzt von Wedderkopp einfach überrannt zu werden, tat ihr augenblicklich in tiefster Seele wohl, ja sie bildete eigentlich den wesentlichen Rückhalt der gegenwärtigen Minuten.
Plötzlich wandte sie sich, war auch schon bei Mimi, vor dem Diwan knieend, und umarmte sie unter Küssen:
»Also kommt nur gleich, wenn ich anrufe. Ich warte nicht länger als höchstens, allerhöchstem, zwanzig Minuten auf den Melzer. Bleibt er aus, dann ruf ich gleich herüber, und ihr macht euch sofort auf. Ja, Mimilein? Mir zuliebe! Ja? Und wenn du dann hinüber kommst, wirst du dem Quälgeist, dem Gefangenenwärter, eine Freude machen wollen, ja? Weil die Gefangenschaft zu Ende ist? Das muß doch gefeiert werden! Ja?! Wirst dich gleich umziehen (drüben? Damit wir beide das Gleiche anhaben?! Was Schönes, Mimilein!«
»Ja, ja«, sagte die Sparlez. »Was ist denn das schon wieder?«
»Ein tea-gown. Zauberhaft. Gegoldetes Beige.«
Es war wirklich schon so weit gegangen bei Editha in der letzten Zeit, daß sie manches von vornherein hatte doppelt machen lassen.
Mimi versprach alles. Jetzt sprang Editha auf und zupfte sich zurecht. Es war sechs Minuten vor fünf. Der Rittmeister griff nach einer Flasche auf dem Tisch und schenkte ein flaches bläuliches Glas halbvoll. Er hielt es Editha entgegen und knurrte: »Satteltrunk?«
Sie schluckte gehorsam.
»Scheinst nicht besorgt, deinen Adorateur durch eine kräftige Stichflamme zu versehren.«
Editha sagte gar nichts und ging ab. Alsbald breitete sich Stille aus in des Rittmeisters Gemach. In der Diwan-Ecke – wo einst Melzer und Thea in traulicher Emsigkeit gesessen waren – hatte Mimi Scarlez noch mehr sich zusammengerollt, unbegreiflichen Geschaus, wenn auch jetzt ohne den Hintergrund von Berg und Burg. In welchen Abendhimmeln der Erinnerung versank sie, welche Strähne und Streifen trieben regenbogenfarbig darin? Die ›Lagos‹ mit den Bootsfahrten, Schwäne, ein Ausflug noch weiter hinaus, nach Tigre, oder die ihrer Wohnung nahen, frommen und rührenden oberirdischen Begräbnisstätten der Recoleta hinter Glas? Die Madeleine in Paris oder die zwölf Säulen vor dem Dom daheim, eines an das andere erinnernd? Die Calle Cerrito, die Anfahrt vor dem Teatro de Mayo. Gegenüber war ihr Zahnarzt, der Cassullo. Die zwei nächsten Häuser waren niedriger, und das vierte, schon jenseits einer Quergasse, hatte eine Kuppel. Alles ganz so scheußlich wie in Paris oder Wien. Aber sie liebte es. Sie roch es. Enrique konnte Hunderte von Versen der spanischen Klassiker auswendig, und er hatte ihr dies immer vorsprechen müssen, lange noch ehe sie die Sprache recht verstand und als sie mit ihm nur französisch oder englisch reden konnte. Aber sein Mund nahm, wenn er das reine hohe Spanisch aussprach, wechselnde Formen an, in welche Mimi sich immer neu mit Wildheit (soweit davon bei ihr die Rede sein kann) verliebte … Nun, manchmal war sie schon wild. In der Verzweiflung. Dann konnte sie sogar irgendjemanden, der ihr gerade ungelegen kam, ohrfeigen, wie man sich vielleicht zu erinnern beliebt.
Auch der Rittmeister schwieg und war eigentlich recht ernst. Hinter dem Ende der albernen Komödie schien sich doch nicht nur für die Zwillinge, sondern auch für ihn selbst ein Abschluß und Abschnitt in
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