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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Adlerblick, dem ganz augenscheinlich hier jedwede Veranlassung fehlte, über sich in die Luft, der Doktor Negria. »Wo er jetzt wohl wieder hinfährt?!« dachte Mary und blickte dem Zuge nach, welcher ihr genau die Rückwand des Anhängers zukehrte, schon rasch entgleitend. Aber es wäre zu interessanten Vermutungen ebenso wenig Veranlassung vorhanden gewesen wie zu einem so entschlossen aktivistischen Geschau: denn der Doktor Negria fuhr durchaus honett und pflichtgetreu zum Kinderspital, wo er heute den Nachtdienst zu halten hatte. Vielleicht kam er vom Tennisklub Augarten.
    Grete Siebenschein war auf dem Treppenabsatze stehen geblieben. Sie trat vor die Tür der Wohnung und betrachtete einen Augenblick lang den hier angebrachten (jetzt eigentlich nicht mehr recht angebrachten) Zettel (den zweiten). Noch war Marys rascher Schritt vom Vorhaus unten zu hören. Dann das Zuklappen der Tür auf die Straße. Während dieser Sekunden dachte Grete daran, den Anschlag von der Türe hier zu nehmen und den früheren, welchen sie in ein kleines auf ihr Kleid genähtes Täschchen gesteckt hatte, mit Hilfe der zwei Reißnägel wieder hinzuheften. Und zunächst einmal fortzugehen. Vielleicht hinauf in den dritten Stock, an den Teetisch, zu diesem klugen Mädchen? Indem erfaßte ihr aus der eigenen Leere lauschendes Ohr den Ton der kleinen Pforte unten, welche neuerlich geöffnet worden war und sich durch den automatischen Türschließer wieder schloß. Schon erkannte sie Renés Schritt, es hätte seines Laufes über die Treppen herauf dazu nicht bedurft, den ja außer ihm niemand im Haus so vollführte.
    Grete riß den zweiten Zettel ab, ließ den ersten in der Tasche.
    Sie schloß die Wohnung auf, noch bevor Stangeler auf dem Treppenabsatze erschienen war und stand jetzt unter der offenen Tür.
    Er kam über die letzten Stufen, lief auf sie zu, sie zog ihn hinein, die Türe klappte.
    Man spürte es schon in diesem Vorzimmer irgendwie, daß die Wohnung augenblicklich leer sei.
    Er umarmte sie. Grete löste sich in dieser Umarmung gleichsam rasch auf. Vieles löste sich, alles.
    Dann sagte er ihr, was zu sagen war; ließ sie im übrigen auch Titelkas letzten Brief lesen.
    Sie gingen in Gretes Zimmer. Sie drängten unter diesem Schlage sich zusammen, als wär' er ihnen vermeint gewesen.
    Fräulein K. war am Teetische sitzen geblieben.
    Hinter den Abgehenden war ein Vorhang der Stille gefallen.
    Glatt und schnell. Keine Falten, die da etwa ausschwangen. Eine Courtine. Ein eiserner Vorhang.
    O Mädchen, nicht Lämmlein!
    Tochter, Enkelin, Urenkelin, deren Biographie zu schreiben wäre, als die schönste aller anziehenden unbekannten Aufgaben – wo bist du heut? Wer ist dein Herr geworden? Wer vermeint da, daß du sein seiest?
    Du bist die Mitte dieser Minuten hier, während deren für dich so unsagbar Schmerzliches dort in der Umwelt, der Außenwelt geschah. Davon du jetzt nichts ahnest, und diese Ahnungslosigkeit ermöglicht deine Schönheit im gegenwärtigen Augenblick.

    »Nu wird's bald Zeit, Edithchen«, sagte der Rittmeister gegen ein Viertel vor fünf Uhr (und eben band Paula Pichler ihr Lämmlein an und befestigte die Grete Siebenschein ihren – ersten – Zettel an der elterlichen Wohnungstür). 
    »Was geht's dich an?!« erwiderte Editha.
    »Freundschaftliche Anteilnahme«, sagte Eulenfeld. »Auch Melzern gegenüber.«
    »Nett von dir«, bemerkte sie; sonst nichts.
    »Was hörste von Wedderkoppen?« fragte er.
    Sie schob einen Brief, den sie noch einmal überlesen hatte, zurück in ihr Täschchen.
    »No ja. Dem wird's zu dumm. Er randaliert halt. Ich soll hier alles liegen und stehen lassen …«
    »Was sollste liegen und stehen lassen?«
    »Die Regie-Zigaretten.«
    »Aha. Tabak-Romantik. Nu hör' mal, du sagtest doch, Wedderkopp wisse gar nichts davon, du wolltest ihn eigentlich überraschen, und so?«
    »Hab' ihn aber inzwischen wissen lassen«, sagte sie beiläufig.
    Großes Grunz-Zeichen. Sodann:
    »Und was steht in denen Wedderkopp'schen Briefschaften ansonsten noch?«
    »Daß er, wenn ich in vierzehn Tagen nicht draußen bei ihm bin, oder mindestens den Termin meines Eintreffens festgelegt habe, nach Wien kommt. Dann will er hier heiraten, vor dem deutschen Generalkonsul als Standesbeamten – gibt's denn so was überhaupt? – und mich mit hinausnehmen.«
    »Gar nicht dumm, der Gustav«, sagte Eulenfeld. »Summa: Wedderkopp ante portas.«
    Sie stand auf, begann sich fertig zu machen, vor Eulenfelds Wandspiegel,

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