Die Strudlhofstiege
überflog. Das eine Ruder wird vom grünen Ufer behindert im flachen, klaren Wasser: das war sie, die Zerstreute und Verstreute, der Schein auch über der handhaften Editha noch, die Flüchtige und Zärtliche, welche nicht gewußt hatte, was denn das sei, die ›Strudlhofstiege‹, und der eine Frau von Budau plötzlich unbekannt geworden war: halb abwesende Zwillings-Schwester aus einer anderen und doch fühlbar anwesenden Welt: der Ton dieses Sommers. Gab es sie noch? Mußte sie nicht schwinden, verblassen und fast ersterben wie der Mond bei Tage, jetzt und hier Edithas sozusagen undurchsichtiger Körperlichkeit gegenübergestellt? Melzer zweifelte nicht daran, daß er nun würde die Schwestern auseinanderkennen. Aber beide wichen und verblichen, flohen davon an den Horizont, der Schein und die Beschienene, und sie schlüpften aus jeder Bindung und entpflichteten zugleich: doppelt und daher nicht eigentlich wirklich. Denn mit welcher hatte man gesprochen, mit welcher vereinbart (das freilich wüßt' er nun: zuletzt mit Editha Schlinger-Pastré!), gleichwohl, es konnte auf beide sich beziehen, von jeder auf sich bezogen werden, und so schwand denn hier jedweder feste Punkt und auch fast jedes gegebene Versprechen! Nun dachte er an Paula Pichler, die ihm hatte kürzlich erst, am verwichenen Samstage, sagen wollen, was er im Grunde schon wußte, aber so sehr am äußeren Ohre vorbei, daß ihm Montags, dort drüben auf der jetzt leeren Bank mit Stangeler sitzend, nicht im entferntesten beigefallen war, diesen ob jener Phantasterei zu befragen, deren Augenzeuge René ja schon gewesen sein sollte. Freilich war es keine Phantasterei: zur Stunde nicht mehr, damals jedoch schon. Was rein außen noch ist, besteht so wenig wirklich wie das rein Inwärtige.
Indem öffnete sich Theas große Tasche, und es kamen überraschend jene Papiere hervor – aber damit war diese Tasche noch immer nicht ganz ergründet! – welche die Rokitzer in Edithas Zimmer hinter der Tapetentüre an sich genommen hatte. Sie ergänzte jetzt ihre Erzählung dahin und reichte Melzern die Blätter. Sogleich und als erstes erkannte er den Achtelbogen, welchen sein Amtsdiener Kroissenbrunner so sehr und so schmerzlich (also, daß sich in einer cölesten Registratur sogar ein Büro-Engel eilends auf den Rosenpopo hatte setzen müssen) vermißt hatte. Der Zusammenhang mit Edithas Besuch lag fast allzu klar auf der Hand. Jedoch blieb dieses eine Äußerlichkeit, ja bloße Apparatur (nun freilich, das Denken und die Trópoi der gescheiten Menschen à la alter Stangeler, Robby Fraunholzer, Cornel Lasch, das endet schon bei solcher Apparatur, die sie allerdings vollkommen meistern!). Für Melzern gedieh vielmehr jetzt der Unterschied zwischen den Schwestern zur letzten Evidenz: was hier mit diesen entwendeten Papieren und der glänzend nachgeahmten Unterschrift – er hielt sie selbst beinah für die eigene, wie auf dem Achtelbogen – in seiner Hand lag, das war gleichsam der dunkle und undurchsichtige Kern jener Editha von 1911, von 1923 auf dem Graben, von 1925 in dem großen Vorraum der Registratur, wo sie ihm entlang der Fläche aneinander gestellter Tische entgegengekommen war, auf welchen sich die weißen Streifen gereihter Pakete erstreckt hatten. Das war die Beschienene, jedoch ohne den Schein, und ohne alle fliegenden Farben des Regenbogens, innerhalb deren solche Anstalten, derlei Bestimmtheiten und Kniffe, eine solche Praxis (war's gleich eine dilettantische Faxis nur, denn was hätte sie mit diesen ganz unvollständigen Papieren schon beginnen können, ohne Stem pel, wenn auch noch so oft unterschrieben!), innerhalb deren also diese ganzen Editha Pastré'schen Bestrebungen einen wirklichen Ort nie hätten finden können, so wenig wie eine Faktura im Frühlings wind. Ihm fiel wohl ein, daß auch jene Andere und Frühere, deren Namen er also nicht einmal wußte, jener Sommertagstraum, ihn einmal irgendwas dahin Einschlägiges gelegentlich gefragt hatte: jedoch verwehend, vergessend, und ohne daß man darauf je wäre zurückgekommen. Und vielleicht oder wahrscheinlich nur im Auftrage der Schwester. Ja, so trennten sich hier entlang den Amtsformularen mit letztem scharfem Risse die Zwillinge Pastré, wie sich einst der Zihal'sche Menschenkreis zerlegt hatte entlang der Frau Rosa clandestinem Spalierobst.
Am Donnerstag nach Matthäi schon waren sie bei der Pichler gewesen, die freilich nicht im entferntesten erwartet hatte, daß ihre geschickten und
Weitere Kostenlose Bücher