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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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pelzigen Wäldern und das Ticken einer alten Uhr in der Vorhalle lauter ertönte. Selbst an den Schrofen und Wänden hatte das Licht sich milchig gemildert. Am Dienstag, dem 22. September, war Etelkas Leiche in Wien eingetroffen, um hier beigesetzt zu werden in dem Erb-Begräbnis. Ein Erscheinen der Eltern bei dieser Zeremonie stand nicht zur Erwägung, angesichts der körperlichen Unbeweglichkeit des alten Mannes, den seine Frau nicht verlassen konnte und wollte. Alles geschah in aller Stille, nur wenige folgten Etelkas Sarg; unter ihnen auch Grete Siebenschein (von Asta übrigens herzhaft und stumm begrüßt). Auch Melzer war da. Er hatte am Dienstag vormittag schon vom Amte aus Asta telephonisch angerufen. Es war bei diesem Leichenbegängnisse. daß er den René Stangeler zum letzten Male sah, für lange Zeit.
    Und den Baurat Haupt, kaum daß er ihn kennen gelernt, in der Aufbahrungshalle, wo die wenigen Trauergäste sich versammelten, wieder erkannte. Nicht so Haupt, seinerseits. Erst auf dem Heimwege und dann bei Asta, die Melzern vom Friedhofe zu einer Tasse Tee mitnahm, brachte der Major diesen Punkt zur Sprache und den Baurat auf den Pfad der Erinnerung.
    Hier indessen, als man, an diesem halb sonnigen, halb gedämpften Herbsttage, nach den geendigten Worten eines lutherischen Pastors – der einfach und herzlich für seinen rechtmäßigen Herrn warb, unter dessen Bilde er stand – über breitere und dann schmälere Wege hinter dem aufgehobenen Sarge dahinging, verhielt es sich mit Melzern so, daß ihm ein neu im Vergangenen sich erhebender Pfeiler fast den Gedanken an die Tote verdrängte, die er Sonntags, den 30. August, noch bei Leben gesehen, neben Asta stehend in der bun ten Nationaltracht vor dem ländlichen Postamte, und beide winkend, während Melzer schnell (und ernst) durch das Tal schon der Stadt entgegen zu sinken begonnen hatte. Und nun ging vor ihm, lang und schwarz, Asta am Arme führend – deren eigentümlicher Reiz aus der Trauerkleidung hervorleuchtete wie ein Stein, dem man eine tiefere Fassung gegeben hat – ein englischer Schiffskapitän, welcher einst in der Uniform eines österreichischen Artillerie-Oberleutnants vor rund einem Jahrzehnt im Schnellzuge auf der Reise zwischen Prag und Wien von den deutschen Kriegs-Schiffen erzählt hatte, und ihrem Aussehen nach der Schlacht am Skagerrak. Konnte es da noch – so fühlte Melzer – angesichts solchen Wechselns von Bühne und Kostüm etwa erstaunlich scheinen, daß Mary im entscheidenden Augenblicke prompt aufgetreten war? Ihm zerriß der sänftigende Schleier, der uns im Halbschatten immer wieder vermeinen macht, daß ein Vergangenes wirklich nach rückwärts fallen, abgestrichen, ja unter Umständen verneint und verleugnet werden könne. Dem war nicht so. Durch Sekunden wenigstens fühlt' er's bis zur absoluten Evidenz und Präsenz: wie das Volk des Gewesenen in dichtem und buntem Gedränge sich staut hinter den Kulissen der jetzt eben gespielten Szene und in den Gängen zwischen jenen, bereit, hervorzubrechen und die Bühne zu überschwemmen, alle Handlung an sich zu reißen. Sie alle waren nicht weniger und nicht mehr wirklich wie die anderen, die man gerade sah und im Guckkasten vor sich hatte. Sie galten. Sie waren wohl unsichtbar, jedoch nahe. Auch Mary war ihm immer nahe gewesen, vielleicht nur ein paar Schritte weit entfernt, bereit zum Auftritt.
    Weniger erstaunlich als Haupt wirkte Grauermann, den Melzer vor ganzen vierzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Der Major empfand den Konsul als etwas schlichthin Vollkommenes und Fertiges, und als verhielte dieser sich in der dahinfließenden Zeit wie ein sauberer Kiesel im Bach: über ihm stand die Tiefe fast ganz durchsichtig, ja, sie verschwand, wenn man sich darüber beugte, sie wurde zu einer handhaften Nähe, fast ohne Brechung des Lichts: hier konnte das Auge seine wunderbaren Fähigkeiten nicht erweisen. Die untadelige Haltung Grauermanns aber wirkte auf Melzer fast wie der in sich ruhende, abgeschlossene, keiner Schwankung mehr unterworfene Wert eines Kunstgegenstandes. Grauermann verschwand sogleich nach dem Begräbnis mit Stangeler und Grete Siebenschein. Vielleicht wollten die drei jetzt noch beisammen bleiben.
    Sie war übel daran, die Grete. Hier auf dem Friedhofe hatte sie nach Kräften sich zu beherrschen gesucht (wobei ihre Nase ganz weiß wurde, als ob es kalt wäre), denn da niemand weinte, schien es ihr, als einer verhältnismäßig doch Fernerstehenden, nicht

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