Die Strudlhofstiege
zukömmlich; ja sie besorgte ernstlich, sich durch den sichtbaren Schmerz an einen Platz nahe der Toten zu drängen, der ihr vielleicht sogar gebührt hätte, hier aber verwehrt wurde, durch ihre noch immer ungeklärte Stellung: es war ja eine wirklich nicht ganz leicht zu haltende. Man sieht schon, worunter unser Ehrenmann in Frauenröcken litt: im Grunde an der gleichen Krankheit wie eh' und je und schon im fernen Norwegen. Dazu kam, daß Schlag auf Schlag erfolgt war. Montags: die Todesnachricht aus Budapest und sodann Marys furchtbares Unglück, von welchem sie nicht viel später schon durch die Tochter erfahren hatte. Es war, als stürze plötzlich Schreckliches von allen Seiten heran. Dienstags am Morgen hatte Grauermann, eben aus Budapest eingetroffen, wo noch durch ihn die Überführung der Leiche Etelkas geregelt worden war, bei Grete telephonisch angerufen: um drei Uhr sei das Automobil mit dem Sarge beim Friedhofe in Simmering zu erwarten, wobei seine Anwesenheit erfordert wurde. Ob sie und René ihn nicht dahin begleiten wollten und ihm beistehen? Man war eine halbe Stunde vorher schon draußen, weit, man sah die Straße entlang. Noch war die Haide grün, aber von matter Farbe, bereit, ins Steppenbraun überzugehen: die eröffnete Fernsicht doch wieder vom Dunste verschlossen. Es war der Osten oder eigentlich Südosten, in den man hier schaute, eine Gegend am Stadtrand, die niemand, abgesehen von ihren Bewohnern, aufsuchte, der hier nicht eine Verrichtung hatte; etwa einen Toten zu bestatten. Keine Hügel und Weinberge. Eine Ernstfall- Gegend. Das Gefährt (›der Fourgon‹ sagte Grauermann) tauchte weit draußen auf, noch punktförmig, einen kleinen Staub-Ballen rechts von sich mitlaufen lassend, wie ihn der Wind trieb. (Man hatte die Empfindung als käme Etelka nicht aus einer verhältnismäßig nahe gelegenen Stadt, sondern weit aus dem Osten, aus Steppen, aus Mittel-Asien.) Sie irrten nicht, es war tatsächlich der kastenförmige Wagen mit dem Sarge, äußerlich nicht ohne funebres Dekor gestaltet, schwarz und mit vier Säulen und Guirlanden. Fast auf die Minute pünktlich. Als Grauermann mit den Leuten einige ungarische Worte wechselte, schauderte Grete vor dem Klang der fremden Sprache (die ihr doch als Wienerin in solchem Maße fremd nicht sein konnte), als wäre Etelka gerade daran verdorben und an der nach Osten gedehnten steppenartigen Weite, aus welcher diese Sprache nun unmittelbar gekommen schien.
Der erste kurze Besuch bei Mary wurde am Samstag gestattet. Melzer nahm Thea mit. Schon der Eintritt durch das hohe Tor in der Lazarettgasse verschüchterte. Die Welt der Spitals-Gebäude und Pavillons, welche hier umgab, den Blick ganz ausfüllte, drehte eine einzige und voll ausgebildete Seite von den zahllosen des Lebens-Prismas in's Sehfeld, vor der doch das Bewußtsein unaufhörlich die Aussage machte, es sei dies eine Kehrseite, aber mindestens ebenso gültig wie jene anderen, welche man sonst und für gewöhnlich sah: wodurch diese letzteren fragwürdig wurden und zwar ganz von selbst, ohne daß man dies oder irgendetwas dieser Art erst hätte ausdrücklich denken müssen. Entfernt war der Eintritt in dieses Reich fast so etwas wie die Ausfahrt einer Flotte auf's hohe Meer, während dahinten deren Basis unsicher wird oder möglicherweise ganz verloren geht. Sie wurden, bevor sie das Zimmer, in welchem Mary lag, betreten durften, zu Schweigsamkeit und nur kurzem Bleiben ermahnt; im übrigen sei die Kranke unterrichtet von dem bevorstehenden Besuch und auch davon, wer da käme. Damit ward die Doppeltür von der Schwester geöffnet. Das Licht im Zimmer war gedämpft. Mary lag so, daß die Eintretenden sogleich ihren Kopf auf den Kissen sahen. Melzer und Thea blieben einen Augenblick an der Türe; sodann taten sie einige leise und verhaltene Schritte vor und knieten beide nebeneinander vor dem Bette nieder. Melzer küßte Marys am Rande liegende Hand. Auch das Lämmlein berührte diese zart mit dem milchigen Mäulchen. Mary legte die Hand auf Melzers Kopf. Sie blieben so ein wenig. Dann zogen sie sich zurück. Am Gang übergab die Schwester Melzern seinen Spazierstock und den Leibriemen. Beides war gereinigt. Am folgenden Tage, Sonntags, zur schicklichen Zeit vormit tags um elfe (man hatte sich telephonisch angesagt), besuchte Melzer mit Thea Herrn und Frau E. P. um das Ehepaar mit seiner Braut bekannt zu machen. Von dem an trieben die P.s mit Thea eine Art Kult, und man geht nicht ganz fehl,
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