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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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heruntergefallen; und er vermochte aus irgendeinem Grunde augenblicks die Muskeln seines Antlitzes nicht so weit zu innervieren, daß die klaffende Grimasse sich wieder hätte geebnet.
    Mimi, noch eines Zimmers Länge entfernt, bäumte zurück: Editha erkannte die Ursache; nicht so die Mutter, welche mit ausgebreiteten Armen schon heran kam. Aus dem Kontakt mit Mimis Körper wußt' es die Schlinger, daß jene im nächsten Augenblicke sich wenden und nach rückwärts durch die Flucht der Räume in ihre eigene Flucht stürzen würde, und gleichsam alles hinter sich her reißend in eine neue Kette der Komplikationen hinein. Darum bewies Editha jetzt große und rasche Energie. Während sie Mimi eisern am Handgelenke festhielt, versetzte sie der Schwester, nun dicht hinter ihr, einen so kräftigen Stoß in den Rücken, daß die Bewegung nach vorwärts und auf den Vater zu kaum stockte und, an den freilich nun leer bleibenden Armen der Mutter vorbei, die Scarlez bis vor den Lehnstuhl trug, darin der Alte saß: dort brach Mimi zusammen, jämmerlich weinend: und aus gar keinem anderen Grunde als dem der Erschöpfung und weil man sie zuletzt noch mißhandelt hatte. Freilich deutete Herr Pastré dies Knien und Weinen der Tochter hier vor ihm ganz und gar anders (während seine Frau sanft die Hand unter sein Kinn schob und ihm half, den Mund zu schließen). Freilich segnete er dieses wiedergekehrte Kind und versuchte, es aufzuheben. Und in der Tat war er damit den gegenwärtigen Augenblicken und ihrem fast glücklichen Mißverständnisse vorausgelangt und zugleich in die eigentliche Wirklichkeit und deren Kernholz, das hier vom Splint der Stunde noch überlagert war und vom Geflechte des Nervösen: denn Mimi für ihr Teil hat diesen Fußfall vor dem Vater viel später einmal, und längst wieder in Buenos Aires, innerlich nachgeholt und so in ihre de facto vollzogene und gleichsam leer vorausgeworfene eigene Gebärde hintennach hineingefunden. Jetzt aber gelangte sie doch immerhin dazu, sich zu erheben und in die Arme des Vaters zu finden; und endlich auch in diejenigen der Mutter, welche siebzehn Jahre leer geblieben waren, so daß es auf eine Verzögerung von wenigen Minuten am Ende kaum mehr ankommen mochte.

    Des Morgens um sechs, am folgenden Tage, führte man im Prater, unweit der sogenannten ›Haupt-Allee‹, eine braune leichte ungarische Stute aus dem Stall. Es war ein Pferd nicht eben hoch im Blute, doch trockenen Kopfs, gut gestellt und mit kräftiger Hinterhand. Eine hübsche, soignierte Person. Auch ein alter Husar sah recht lieb und charmant aus im zivilen Reitkleide. Eulenfeld legte der Stute den Arm über den Widerrist und begann allerhand in ihr linkes Ohr zu tuscheln, was man nicht verstehen konnte, das Pferdchen indessen sehr wohl: denn danach warf Ilonka den Kopf hoch und wieherte hell in den sonnigen Oktobermorgen. »Na also!« sagte der Rittmeister. Ohne in den Bügel zu treten sprang er in den Stütz und saß gleich danach im Sattel, die Bügel erst beim Abreiten sich zurechtfangend.
    »Melz'rich, wackrer Infanteriste«, dacht' er, »aber was ist's, par comparaison, gegen die christliche Reiterei?«
    Aus dem Boden stieg, morgendlich frisch, jener Dunst der Auen, der abends, übersättigt vom Aushauche der Vegetation, wehmütig machen kann. Jetzt aber lag alles wie in einem herben, unsichtbaren Rauche, ohne Nebel, glänzend von Sauberkeit und überschärfter Kontur, frischbeschlagen mit Feuchte, deren feiner Dampf die Aureole jedes Dings verstärkte. Das Pferd schritt aus und es war ein guter Schritt, der Eulenfeld über Ilonka schon alles sagte, hatte er auch kaum noch die Schenkel angelegt. Nun erst, auf der langen graden Reitbahn, verständigte er sich mit der Stute, die jetzt, im kürzesten Trab, den er aus saß, die Hinterhand ganz herein nahm, abkaute und tänzelte. Der Rittmeister ließ sie fast ohne Verstärkung der Gangart durch's Zeichen in den Galopp fallen, als befinde er sich auf einer geschlossenen Reitschule, und Ilonka sprang richtig ein: der dies Pferd besaß, der besaß auch Reitkunst, das merkte man. Es war Herr von Leiningen selbst. Nun, als sie rascher dahinflogen, sank Eulenfeld gleichsam in die Stute ein bis zu jener köstlichen centaurischen Verschmelzung, als durchwüchse ihn selbst von unten her die Hinterhand. Auf der Promenade neben der Reitbahn erging sich zu dieser frühen Morgenstunde schon ein bolzgerader alter Herr mit weißen Haaren. Er setzte den silbernen Krückstock zu

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