Die stumme Bruderschaft
gebeten habe.«
Als er allein war, presste er die Finger gegen die Schläfen. Der Kopf tat ihm weh. Seit Tagen hatte er quälende Kopfschmerzen. Er schlief schlecht und hatte keinen Appetit. Er hing nicht am Leben. Er war der furchtbaren Last, Addaio zu sein, müde.
Die Nachrichten hätten nicht schlechter sein können. Die Brüder Bajerai waren aufgeflogen. Jemand im Gefängnis kannte ihren Plan und hatte ihn vereitelt. Vielleicht waren die Bajerai Maulhelden oder aber der Stumme hatte einen Beschützer. Es könnten SIE sein, schon wieder SIE, oder dieser Polizist, der seine Nase in alles steckte. Anscheinend hatte er in den letzten Tagen das Büro des Gefängnisdirektors nicht verlassen. Er hatte etwas vor, aber was? Man hatte ihm gesagt, dass Marco Valoni ein paarmal mit einem Drogenboss zusammengetroffen war, einem gewissen Frasquello. Ja, das passte, bestimmt hatte Valoni diesen Mafioso beauftragt, sich um Mendibj zu kümmern, der Junge war schließlich seine einzige Spur. Ja, so war’s. Das hatte sein Gesprächspartner auch gemeint. Oder hatte er etwas anderes gesagt? Der Schmerz löschte seinen Verstand aus. Er nahm einen Schlüssel, öffnete eine Schublade, holte zwei Pillen heraus, nahm sie ein, und dann setzte er sich mit geschlossenen Augen hin und wartete, dass der Schmerz nachließ, mit etwas Glück war er weg, wenn die anderen Hirten kamen.
Guner klopfte leise an die Bürotür. Die Hirten warteten bereits im großen Saal auf Addaio. Als er das Zimmer betrat, lag Addaio mit dem Kopf auf dem Tisch, die Augen geschlossen. Ängstlich trat Guner näher und seufzte erleichtert: Addaio lebte. Er schüttelte ihn sanft, bis er wach war.
»Du bist eingeschlafen.«
»Ja … Ich hatte Kopfschmerzen.«
»Du musst zum Arzt, diese Schmerzen bringen dich noch um. Du solltest deinen Kopf röntgen lassen.«
»Mach dir keine Sorgen, ich bin in Ordnung.«
»Nein, das bist du nicht. Die Hirten warten auf dich. Richte dich ein wenig her, bevor du herunterkommst.«
»Mache ich. Biete ihnen derweil eine Tasse Tee an.«
»Das habe ich schon getan.«
Minuten später traf Addaio auf den Rat der Gemeinschaft. Die um den schweren Mahagonitisch sitzenden sieben Hirten mit ihren schwarzen Messgewändern boten einen imposanten Anblick.
Addaio berichtete ihnen, was im Gefängnis von Turin passiert war, und die Mienen verfinsterten sich sorgenvoll.
»Ich möchte, dass du, mein lieber Bakkalbasi, nach Turin reist. Mendibj wird in zwei oder drei Tagen freikommen und versuchen, Kontakt zu uns aufzunehmen. Wir müssen das verhindern. Unsere Leute dürfen nicht noch mehr Fehler machen. Deswegen ist es wichtig, dass du da bist und die Operation in ständigem Kontakt mit mir koordinierst. Ich habe das Gefühl, wir stehen kurz vor dem Abgrund.«
»Ich habe Nachrichten von Turgut.«
Alle Blicke wendeten sich dem älteren Hirten mit den lebendigen blauen Augen zu, der gerade gesprochen hatte.
»Er ist krank, hochgradig depressiv. Er leidet unter Verfolgungswahn. Er behauptet, er werde überwacht, man traue ihm im Bistum nicht mehr und die Polizisten aus Rom seien in Turin, um ihn festzunehmen. Wir müssen ihn da rausholen.«
»Nein, das können wir jetzt nicht, das wäre Wahnsinn«, antwortete Bakkalbasi.
»Ist Ismet bereit?«, fragte Addaio. »Ich habe angeordnet, dass er zu seinem Onkel geht. Das ist das Beste.«
»Seine Eltern haben zugestimmt, aber er weigert sich, er hat eine Freundin hier«, erläuterte Talat.
»Eine Freundin! Und weil er eine Freundin hat, bringt er die ganze Gemeinschaft in Gefahr? Ruft seine Eltern an. Er wird noch heute gemeinsam mit unserem Bruder Bakkalbasi nach Turin fliegen. Ismets Eltern sollen Turgut anrufen und ihm sagen, sie würden ihm ihren Sohn schicken, damit er sich um ihn kümmert, während er sich eine Zukunft in Italien aufbaut. Verliert keine Zeit.«
Addaios entschiedener Ton ließ keinen Widerspruch zu. Eine Stunde später verließen die Männern das herrschaftliche Haus. Jeder wusste, was er zu tun hatte.
36
Ana Jiménez klingelte. Das elegante viktorianische Haus im elegantesten Teil Londons wirkte wie die Residenz eines reichen Lords. Ein älterer Hausdiener öffnete.
»Guten Tag. Sie wünschen?«
»Ich möchte mit dem Leiter der Einrichtung sprechen.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Ja. Ich bin Journalistin. Ich heiße Ana Jiménez, den Termin hat ein Kollege von der Times für mich vereinbart, Jerry Donalds.«
»Treten Sie ein, und warten Sie bitte einen
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