Die stumme Bruderschaft
eigenartigen Todesfällen?«
»Nein.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Es gibt ausreichend Dokumentationen, die die Todesumstände des Königs und des Papstes aufzeigen, und ich versichere Ihnen, es gibt nicht eine Quelle, die auch nur spekulativ einen Racheakt der Templer in Betracht zieht. Außerdem entspricht das nicht dem Wesen und der Vorgehensweise der Templer. Nach allem, was Sie gelesen haben, sollten Sie das wissen.«
»Nun, ich hätte es getan.«
»Was?«
»Ich hätte eine Gruppe von Rittern zusammengetrommelt, die dem Papst und Philipp dem Schönen den Garaus machen.«
»Es ist offenkundig, dass es nicht so war; so etwas hätten Tempelritter nie getan.«
»Sagen Sie, was ist mit diesem Schatz, den der König suchte? Wie in den Archiven steht, hatte er den Templern fast schon alles genommen. Und doch bestand Philipp darauf, dass Jacques de Molay ihm einen Schatz übergeben sollte. Was meinte er damit? Es muss etwas Konkretes, etwas sehr Wertvolles gewesen sein, nicht wahr?«
»Philipp der Schöne glaubte, dass der Templerorden mehr Schätze hatte, als er beschlagnahmen konnte. Es war eine fixe Idee, er glaubte, Jacques de Molay würde ihn belügen und irgendwo noch Gold verstecken.«
»Nein, nein, ich glaube nicht, dass er noch mehr Gold suchte.«
»Ach nein? Wie interessant. Und was, glauben Sie, hat er dann gesucht?«
»Wie ich schon sagte, etwas Konkretes, einen Gegenstand, der von großem Wert für die Templer und den König von Frankreich und für die ganze Christenheit war.«
»Schön, dann sagen Sie mir, was: Ich versichere Ihnen, das ist das erste Mal, dass ich einen solchen … einen solchen …«
»Wenn Sie nicht so wohl erzogen wären, würden Sie ›Unsinn‹ sagen. Gut, vielleicht haben Sie Recht. Sie sind Professor, und ich bin Journalistin. Sie halten sich an die Tatsachen, und ich spekuliere.«
»Geschichte, Miss, schreibt man nicht auf der Grundlage von Spekulationen, sondern von belegbaren Tatsachen.«
»In Ihren Archiven steht, in den Monaten vor seiner Verhaftung hatte der Großmeister Botschaften an verschiedene Komtureien geschickt, viele Ritter seien ausgezogen und nicht zurückgekehrt. Gibt es eine Kopie von diesen Briefen von Jacques de Molay?«
»Von einigen ja. Wir haben sie als echt identifizieren können. Andere sind für immer verloren gegangen.«
»Könnte ich sie sehen?«
»Ich werde es versuchen.«
»Ich würde sie gerne morgen früh sehen, morgen Abend reise ich nämlich ab.«
»Ah, Sie reisen ab!«
»Ja, und man merkt, wie Sie das freut.«
»Ich bitte Sie, Miss!«
»Ja, ich weiß, dass ich Ihnen auf die Nerven gehe und Sie von Ihrer Arbeit abhalte.«
»Ich versuche, die Dokumente bis morgen zu beschaffen. Kehren Sie nach Spanien zurück?«
»Nein, ich fliege nach Paris.«
»Gut, dann kommen Sie gleich morgen früh.«
42
Ana Jiménez verließ das herrschaftliche Haus. Sie hätte gerne noch einmal mit Anthony McGilles gesprochen, aber der war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie war erschöpft. Sie hatte fast den ganzen Tag Dokumente über die letzten Monate der Templer gelesen. Von all den Daten und historischen Berichten schwirrte ihr der Kopf. Dazu kam ihre überbordende Phantasie – wenn sie Sätze las wie: »Großmeister Jacques de Molay hat einen Brief an die Komturei von Mainz geschickt. Der Überbringer war Ritter de Larney, der am 15. Juli in Begleitung von zwei Knappen aufbrach«, versuchte sie, sich vorzustellen, wie das Gesicht von diesem de Larney ausgesehen hatte, ob er ein schwarzes oder ein weißes Pferd ritt, ob es heiß war, was die Knappen gedacht haben mochten. Aber sie wusste, ihre Phantasie reichte nicht aus, um sich die Lebenswirklichkeit dieser Männer tatsächlich vorstellen zu können. Und was hatte Jacques de Molay den Ordensoberen wohl geschrieben?
Es gab einen detaillierten Bericht, wie viele Ritter mit Botschaften entsandt wurden. Einige waren zurückgekehrt, so etwa Geoffroy de Charney, der Visitator der Normandie. Von anderen hatte man für immer jede Spur verloren, zumindest den Archiven zufolge.
Am nächsten Tag würde sie nach Paris reisen. Sie hatte eine Verabredung mit einer Geschichtsprofessorin der Sorbonne. Sie hatte wieder ihre Kontakte aktivieren müssen, um herauszufinden, wer die höchste akademische Autorität für das 14. Jahrhundert war. Offensichtlich Elianne Marchais, eine angesehene Professorin um die sechzig und Autorin verschiedener gelehrter Bücher, die nur für Fachleute geschrieben
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