Die stumme Bruderschaft
etwas zu lesen gebeten, eine Zeitung?«
»Nein, er schaut auch nicht fern, ihn interessieren nicht einmal die Weltmeisterschaftsspiele. Er bekommt keine Briefe, und er schreibt auch keine.«
Als der Stumme den Besucherraum betrat, in dem Marco saß, zeigte sich in seinen Augen keinerlei Überraschung, bloß Gleichgültigkeit. Er blieb in der Nähe der Tür stehen, den Blick gesenkt, abwartend.
Marco forderte ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen, aber er blieb stehen.
»Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen oder nicht, aber ich denke ja.«
Der Stumme hob ganz leicht den Blick, jemand, der sich nicht mit Menschen auskannte, hätte es gar nicht bemerkt, aber Marco kannte sich aus.
»Ihre Freunde haben wieder versucht in der Kathedrale zu stehlen. Diesmal haben sie einen Brand verursacht. Zum Glück ist das Grabtuch unversehrt.«
Der Stumme behielt seine Gefühle weiterhin mühelos unter Kontrolle, sein Gesicht blieb völlig reglos. Aber Marco hatte das Gefühl, dass sein blindes Herumstochern doch irgendwo hinführte, denn der Mann hatte zwei Jahre im Gefängnis hinter sich und war verwundbarer als bei seiner Verhaftung.
»Ich denke, es muss ziemlich zermürbend sein, hier eingesperrt zu sein. Ich will weder Ihre noch meine Zeit verschwenden. Sie hatten noch ein Jahr zu verbüßen, und ich sage extra ›Sie hatten‹, denn wegen dem Brand vor zwei Tagen haben wir Ihren Fall neu aufgerollt. Ein Mann ist verbrannt, er war stumm wie Sie. Jetzt verlängert sich Ihre Zeit hier. Bis wir die Ermittlungen abgeschlossen und die Beweise zusammenhaben. Das kann unter Umständen zwei, drei oder auch vier Jahre dauern, ich weiß es nicht. Deshalb bin ich hier. Wenn Sie mir verraten, wer Sie sind und wer Ihre Freunde sind, dann können wir vielleicht zu einer Einigung kommen. Ich würde mich dafür einsetzen, dass sie vorzeitig entlassen und in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Das heißt, Sie bekommen eine neue Identität und Ihre Freunde können Sie nicht mehr aufspüren. Denken Sie darüber nach. Ich kann den Fall in einem Tag oder in zehn Jahren lösen, aber solange er nicht abgeschlossen ist, werden Sie in diesem Gefängnis vor sich hingammeln.«
Marco gab ihm eine Karte mit seinen Telefonnummern.
»Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, zeigen Sie den Wärtern die Karte, sie werden mich dann verständigen.«
Der Stumme machte keine Anstalten, die Hand auszustrecken, also legte Marco die Karte auf den Tisch in der Mitte des Raumes.
»Sie werden schon noch begreifen, es ist Ihr Leben, nicht meins.«
Als er den Raum verließ, widerstand er der Versuchung sich umzudrehen. Er hatte den Hardliner gespielt, und es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder er hatte sich lächerlich gemacht, weil der Stumme kein Wort verstanden hatte, oder, im Gegenteil, er hatte den Mann unsicher gemacht und er reagierte schließlich doch.
Hatte der Stumme ihn verstanden? Sprach er Italienisch? Er wusste es nicht. Einen Moment lang war es ihm so vorgekommen, aber womöglich irrte er sich.
Zurück in seiner Zelle, legte der Stumme sich auf die Pritsche und starrte an die Decke. Er wusste, dass die Sicherheitskameras jeden Winkel seiner Zelle im Visier hatten. Darum durfte er sich weiterhin nichts anmerken lassen.
Ein Jahr noch, dann war er wieder in Freiheit, und jetzt sagte ihm dieser Polizist, er brauche gar nicht daran zu denken, entlassen zu werden. Vielleicht bluffte er nur, aber vielleicht sagte er auch die Wahrheit.
Weil er freiwillig nicht mit den anderen Gefangenen fernsah, wusste er nicht, was draußen los war. Addaio hatte ihnen gesagt, wenn sie geschnappt würden, sollte sie sich isolieren, ihre Strafe absitzen und nach Hause zurückkehren.
Jetzt hatte Addaio ein anderes Team geschickt, er hatte es wieder versucht. Ein Brand, ein toter Kamerad, und wieder suchte die Polizei ratlos nach Spuren.
Im Gefängnis hatte er Zeit gehabt nachzudenken, und es gab nur eine mögliche Erklärung: Sie hatten einen Verräter in den eigenen Reihen. Es konnte nicht sein, dass bei jeder Aktion etwas schief ging und die Leute verhaftet wurden oder in den Flammen starben.
Ja, sie hatten einen Verräter in ihren Reihen, und so war es auch in der Vergangenheit gewesen. Er war sich sicher. Er musste zurückkehren und Addaio dazu bringen, so lange zu suchen, bis der Schuldige für all die Fehlschläge, für ihr Pech, gefunden war.
Aber er musste warten, so schwer es ihm auch fiel. Wenn dieser Polizist ihm einen Deal angeboten hatte,
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