Die stumme Bruderschaft
dann, weil er nichts in der Hand hatte, sonst stünde er bereits vor Gericht. Der Polizist hatte geblufft, da durfte er nicht schwach werden. Seine Stärke lag in seiner Stummheit und in der strengen Isolation, in die er sich begeben hatte. Man hatte ihn dafür ausgebildet, aber wie hatte er gelitten in diesen zwei Jahren, ohne ein Buch zu lesen, ohne Nachrichten von draußen, ohne mit jemandem zu reden, und sei es in Gebärdensprache.
Die Wächter und die Polizeibeamten waren überzeugt, er sei ein harmloser Irrer, der seinen Versuch, in der Kathedrale zu stehlen, bereute und deswegen in die Kapelle zum Beten ging. Er wusste es, weil er sie über ihn hatte reden hören. Er tat ihnen Leid. Jetzt musste er seine Rolle weiterspielen, nichts reden, nichts hören, nichts verstehen, damit sie ihn weiter für ein Möbelstück hielten, vor dem man in aller Offenheit sprechen konnte.
Er hatte die Visitenkarte des Polizisten absichtlich auf dem Tisch im Besucherraum liegen lassen. Er hatte sie nicht einmal angerührt. Jetzt hieß es warten, warten, bis ein weiteres verflixtes Jahr um war.
»Er hat deine Karte nicht angerührt.«
»Habt ihr irgendetwas Besonderes bemerkt?«
»Nein, er ist wie immer. Er geht in den Freistunden in die Kapelle, und den Rest der Zeit verbringt er in seiner Zelle und starrt an die Decke. Die Überwachungskameras beobachten ihn vierundzwanzig Stunden. Wenn er etwas anderes täte, würde ich dich informieren.«
»Danke«
Marco legte auf. Sein Gefühl hatte ihn getäuscht. Er war überzeugt, dass der Stumme reagieren würde, aber der Gefängnisdirektor versicherte ihm, dass es keine Veränderung an ihm gab. Er fühlte sich entmutigt, weil die Ermittlungen nicht vorankamen.
Minerva würde bald eintreffen. Er hatte sie gebeten nach Turin zu kommen, weil er sein ganzes Team versammelt haben wollte, so konnten sie gemeinsam besprechen, was sie bis jetzt herausgefunden hatten.
Sie würden noch zwei oder drei Tage bleiben. Dann müssten sie nach Rom zurück. Er konnte sich nicht ausschließlich diesem Fall widmen, das würde man im Dezernat nicht verstehen und in den Ministerien auch nicht. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, dass man glaubte, er leide unter einer fixen Idee. Die obersten Bosse hatten für dergleichen kein Verständnis. Das Grabtuch war unversehrt, aus der Kathedrale war nichts verschwunden. Einer der Diebe war tot. Man hatte nicht herausfinden können, wer er war, aber offensichtlich interessierte das auch niemanden besonders.
Sofia und Pietro betraten das Büro. Giuseppe war zum Flughafen gefahren, um Minerva abzuholen, und Antonino, immer überpünktlich, saß schon seit einer Weile in Papiere vertieft am Schreibtisch.
»Was gibt’s Chef?«, begrüßte ihn Sofia.
»Nichts, der Gefängnisdirektor hat mir berichtet, dass der Stumme sich nicht weiter gerührt hat, so als hätte er mich gar nicht gesehen.«
»Das ist doch normal«, bemerkte Pietro.
»Ja, vermutlich.«
In dem Augenblick verkündeten ein lautes Lachen und das Geklapper von Absätzen, dass Minerva da war. Zusammen mit Giuseppe betrat sie das Büro. Sie war mittelgroß, weder dick noch schlank, weder hübsch noch hässlich, und fast immer gut gelaunt. Sie war glücklich verheiratet mit einem Informatikingenieur, der genau wie sie ein echtes Genie in Internetdingen war.
Nach den üblichen Begrüßungen begann das Meeting.
»Gut«, sagte Marco, »lasst uns alles noch mal zusammenfassen, und ich will, dass jeder von euch seine Meinung sagt. Pietro …«
»Das Unternehmen, das die Bauarbeiten in der Kathedrale ausführt, heißt COCSA. Ich habe alle Arbeiter befragt, die an der Erneuerung der elektrischen Anlagen arbeiten. Sie wissen nichts, und ich denke, sie sagen die Wahrheit. Die meisten sind Italiener, außerdem gibt es noch paar Emigranten: zwei Türken und drei Albaner. Ihre Papiere sind in Ordnung, einschließlich der Arbeitserlaubnis.
Sie kommen immer morgens um halb neun in die Kathedrale, nach der Frühmesse. Wenn die Gläubigen gegangen sind, werden die Türen geschlossen, die nächste Messe ist erst um sechs. Zwischen halb zwei und vier machen sie Mittagspause. Um Punkt vier sind sie wieder am Platz, und um sechs gehen sie.
Obwohl die Stromleitungen nicht übermäßig veraltet sind, werden sie erneuert, um einige Kapellen noch besser ausleuchten zu können. Außerdem reparieren sie ein paar abgebröckelte Stellen in der Wand, die aufgrund der Feuchtigkeit entstanden sind. Sie
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