Die stumme Bruderschaft
verschiedene Ämter in der Regierung Chirac innegehabt. Seine Schwester ist Richterin am Obersten Gerichtshof. Er hat eine kometenhafte Karriere in der Kirche hingelegt. Er wird protegiert von Monsignore Aubry, dem Assistenten des stellvertretenden Kardinalstaatssekretärs, aber auch Kardinal Paul Visier, der die Finanzen des Vatikan verwaltet, hegt Sympathien für ihn, denn er war ein Kommilitone von Pater Yves’ älterem Bruder Jean. Er hat ihn gefördert und dafür gesorgt, dass er sich erste Sporen im diplomatischen Dienst verdienen konnte. Pater Yves hatte verschiedene Posten in Nuntiaturen in Brüssel, Bonn, Mexiko und Panama. Auf ausdrückliche Empfehlung von Monsignore Aubry ist er zum Sekretär des Kardinals ernannt worden, und es geht das Gerücht um, dass er bald zum Hilfsbischof der Diözese ernannt wird. Sein Lebenslauf weist keine Besonderheiten auf, außer dass er ein eifriger Priester mit einer einflussreichen Familie ist, die ihn bei seiner kirchlichen Karriere unterstützt. Sein akademisches Curriculum liest sich nicht schlecht. Er hat Theologie und Philosophie studiert, er hat einen Magister in alten Sprachen, ihr wisst schon, Latein, Aramäisch und so, und er spricht noch weitere Sprachen fließend.
Das einzig Besondere ist, dass er sich für Kampfkunst interessiert. Als Kind war er wohl ein wenig schwächlich, und damit er nicht von den anderen verprügelt wurde, schickte sein Vater ihn zum Karate. Es gefiel ihm, und er hat nicht nur einen schwarzen Gürtel mit was weiß ich wie vielen Dan in Karate, sondern beherrscht auch Taekwondo, Kickboxen und Aikido. Kampfsport ist seine einzige Schwäche, aber wenn man an die Schwächen der anderen im Vatikan denkt, ist die von Pater Yves wohl ausgesprochen harmlos. Ah, und obwohl er so hübsch ist, ich meine, dem Foto nach, sind keinerlei Techtelmechtel mit Mädchen oder Jungen bekannt. Nichts, er hält sich an das Zölibat.«
»Was haben wir noch?«, fragte Marco, ohne sich konkret an jemanden zu wenden.
»Nichts, gar nichts«, sagte Giuseppe. »Wir sind wieder an einem toten Punkt. Ohne Hinweise und, was noch schlimmer ist, ohne Motiv. Wir können das mit der Tür noch einmal überprüfen, wenn du es für eine falsche Fährte hältst – aber verdammt, wie kommen sie dann rein und raus? Wir haben die Kathedrale von oben bis unten durchsucht und keine Geheimtüren gefunden. Der Kardinal hat gelacht, als wir ihn nach dieser Möglichkeit fragten. Er versicherte, dass es keine geheimen Zugänge gebe. Er hat Recht, wir haben wiederholt die Pläne des Tunnelsystems im Untergrund von Turin durchgesehen, in diesem Gebiet gibt es keine. Übrigens, die Turiner machen ein Geschäft daraus, den Touristen die Tunnel zu zeigen und ihnen die Geschichte ihres Helden Pietro Micca zu erzählen.«
»Das Motiv ist das Grabtuch«, wiederholte Marco schlecht gelaunt. »Sie sind hinter dem Tuch her, da bin ich mir sicher. Schön, hat noch jemand eine Idee?«
Betretenes Schweigen machte sich breit. Sofia suchte Blickkontakt zu Pietro, aber dieser zündete sich mit abgewandtem Kopf eine Zigarette an, also beschloss sie, den anderen zu sagen, was sie die ganze Zeit gedacht hatte.
»Marco, ich würde den Stummen freilassen.«
Die anderen starrten sie an. Hatten sie da eben richtig gehört?
»Der Stumme kann unser Trojanisches Pferd sein. Siehst du, Marco, wenn du Recht hast und jemand hinter dem Grabtuch her ist, dann ist es ganz klar eine Organisation, die stumme Schergen mit verbrannten Fingerspitzen ausschickt. Wenn die verhaftet werden, kommen sie gar nicht erst in Versuchung zu reden. Und ohne Fingerabdrücke ist es unmöglich, ihre Identität zu bestimmen. Meiner Meinung nach, Marco, nutzen deine Drohungen gegenüber dem Stummen nichts; ich bin sicher, dass er nicht mit dir reden wird. Er sitzt seine Strafe ab, es ist schließlich nur noch ein Jahr.
Wir haben zwei Möglichkeiten, wir warten ein Jahr oder aber du überzeugst die Chefs, dafür zu sorgen, dass der Stumme freigelassen wird, damit wir uns, sobald er draußen ist, an seine Fersen heften können. Irgendwo muss er ja hingehen und mit irgendwem Kontakt aufnehmen. Aber das Ganze muss gut vorbereitet sein. Man kann ihn nicht sofort freilassen, frühestens in zwei Monaten. Er darf auf keinen Fall Verdacht schöpfen.«
»Gott, sind wir dumm gewesen!«, rief Marco und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie konnten wir nur so blind sein! Wir, die Carbinieri, alle. Wo die Lösung so nahe lag.«
Sie sahen ihn
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