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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chahdortt Djavann
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sie sagte, man dürfe die Stumme nicht zu meinem Onkel gehen lassen. Manchmal hatte ich Lust, sie zu würgen, um sie zum Schweigen zu bringen. Meine Fantasien quälten mich, die Steinigung spielte sich immerzu von neuem in meinem Kopf ab; ich sah die Stumme vor mir, jene Frau, die ich über alles auf der Welt liebte und die mich liebte, die mich aufgezogen hatte, jene Frau, in deren Arme ich mich flüchtete. Diese Frau sollte gesteinigt werden? Ich hatte nicht gewusst, dass man einen solchen Schmerz empfinden konnte. Niemand verdient es, auf so grausame Weise umgebracht zu werden, nicht einmal der größte Verbrecher, und vor allem nicht meine wunderbare stumme Tante, deren einziges Vergehen darin bestand, sich kühn zu ihrer Liebe bekannt zu haben. Mal betete ich zu Gott, mal drohte ich ihm: Ah, ich werde dich eigenhändig umbringen, wenn du zulässt, dass meine Tante gesteinigt wird.
    Mein Vater war zum Mullah gegangen, um ihn anzuflehen;
er hatte sich vor ihm zu Boden geworfen und ihm geschildert, wie sie mit zehn Jahren Waise geworden, wie sie im Elend aufgewachsen war; dann hatte er ihn um Gnade angefleht. Der Mullah hatte ihm versprochen, dass die Stumme nicht gesteinigt, sondern nur gehängt werden würde, aber im Gegenzug hatte er um meine Hand angehalten. Und in seiner Verzweiflung gab mein Vater ihm sein Einverständnis.
    Als er nach Hause kam, sah er aus wie ein flügellahmer Vogel. Als er zur Tür hereinkam, rannte ich auf ihn zu. Sie wird nicht gesteinigt, sondern nur gehängt, sagte er mit erstickter Stimme. Dann brach er vor Entsetzen zusammen, mit stumpfem, erloschenem Blick. Diese Ankündigung verscheuchte das Bild ihrer Steinigung aus meinem Kopf, mein Vater hatte sie gerettet. Verglichen mit einer Steinigung war der Tod durch den Strang ein sanfter und würdiger Tod.

W ir trugen lange vor dem Tag der Hinrichtung meiner Tante Trauer. Der Mullah wollte nicht, dass die Geschichte sich allzu lange hinzog; also hatte er das Datum selbst festgesetzt. Er hatte meinem Vater ausnahmsweise eingeräumt, sie zu besuchen, ein einziges Mal. Ich begleitete ihn, musste aber vor dem Gefängnistor warten, desselben Gefängnisses, in dem ich mich heute befinde. Nach zehn Minuten kam er wieder heraus; er machte den Mund nicht auf, und ich stellte ihm keine Fragen. Ich nahm lediglich seinen Arm, weil ich spürte, dass ihm jeden Moment auf offener Straße die Beine versagen konnten. Nach Hause zurückgekehrt legte er sich hin und stand tagelang nicht mehr auf.
    Die Hinrichtung sollte am Freitagmorgen, einem Feiertag, stattfinden, und zwar auf dem Hauptplatz des Viertels, damit viele Zuschauer angelockt würden. Wir waren zu Hause geblieben; mein Vater war krank, er konnte nicht aufstehen. Ich wollte die Stumme vor
ihrem Tod ein letztes Mal sehen. Ich wollte ihre Hinrichtung sehen, um nie zu vergessen, was man ihr angetan hatte. Meine Mutter hatte sich vor mich gestellt, um mich daran zu hindern, hinauszugehen. Doch ich stieß sie mit aller Kraft zur Seite und lief hinaus. Als ich auf den Platz kam, führten Männer mit Strumpfmasken die Stumme gerade auf einen Lastwagen. Sie trug ein langes schwarzes Kleid, das sogar ihre Füße verbarg, und ein schwarzes Tuch auf dem Kopf, das ihre Haare vollständig bedeckte, aber ihr Gesicht freiließ. Ihre Hände waren am Rücken gefesselt. Ein Mann legte ihr den Strick um den Hals; sie blickte in die Menge, ich sah sie an und wollte rufen, damit sie wusste, dass ich da war; doch meine Stimme versagte. Ich schrie, oder wenigstens versuchte ich zu schreien. Die Wirklichkeit war noch schlimmer als der Albtraum, der Kloß in meinem Hals nahm mir den Atem. Ich schrie, aber kein einziger Laut drang aus meiner Kehle. Tränenströme liefen mir übers Gesicht. Unentwegt wischte ich mir über die Augen, damit das letzte Bild der Stummen nicht verschwamm. Die Stumme hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck, ich bin mir sicher, dass sie ihre Liebesnacht nicht bedauerte und lieber starb, als die Frau des Mullahs zu werden. Sie
hob den Kopf gen Himmel. Ich sah sie an, und als sie den Kopf wieder senkte, erblickte sie mich; einige Sekunden verharrten wir so, Aug in Aug. Ich weinte, auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln, sie war schon woanders. Der Arm des Krans hob den Körper der Stummen an. Die Menge skandierte »Allah Akbar«. Die Stumme baumelte zwischen Himmel und Erde.

S ie wurde auf der Parzelle des Friedhofs beerdigt, der Verbrechern vorbehalten ist, damit ihre ehebrecherische

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