Die Stumme - La Muette
Sünde die tugendhaften Muslime nicht ansteckte. Was sind die Gläubigen doch für armselige Menschen. An den darauffolgenden Tagen weinte ich mir die Augen aus dem Kopf.
Sieben Tage nach der Beerdigung klingelte es an unserer Tür. Mein kleiner Bruder machte auf. Ist dein Vater da?, fragte eine durchdringende männliche Stimme. Mein Vater stand auf, trat vor die Tür und unterhielt sich ein paar Minuten mit dem Unbekannten, wobei er die Tür halb geöffnet ließ. Dann kam er mit niedergeschlagener Miene wieder herein, schloss die Tür hinter sich und ließ sich auf den Kelim fallen. Er hielt ein Stück Papier in der Hand.
»Was ist das?« fragte meine Mutter.
»Es ist die Heiratsurkunde deiner Tochter.«
Noch bevor er den Mund aufmachte, hatte ich irgendwie
alles begriffen. Meine Mutter überhäufte ihn mit Fragen. Ich hörte ihm nicht zu, sondern weinte und wusste nicht, weshalb meine Tränen flossen. Weil die Stumme tot war? Wegen der Verzweiflung meines Vaters oder der düsteren Zukunft, die mich erwartete? Ich verurteilte meinen Vater nicht, an seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt, ich wäre zum Schlimmsten fähig gewesen, um die Stumme vor der Steinigung zu bewahren. Der Mullah hatte die Heiratsurkunde ausgestellt, er brauchte mein Einverständnis nicht, denn nach dem Gesetz stand ich unter der Obhut meines Vaters, und mein Vater hatte das Recht, mich nach Gutdünken zu verheiraten. Er hatte ihm seine Einwilligung gegeben. Am folgenden Morgen musste ich bei ihm sein.
Mein Onkel war für drei Monate ins Gefängnis gekommen und hätte hundertzwanzig Peitschenhiebe erhalten müssen. Auch ihm gegenüber hatte der Mullah Milde walten lassen und die Zahl der Hiebe auf achtzig verringert.
Ich schlief erst in den frühen Morgenstunden ein und träumte von der Stummen. Sie stand am Galgen, aber ihre Hände waren frei; sie riss sich das Tuch vom Kopf. Mit ihrem entblößten Haar und den beiden langen
Zöpfen hatte sie ihr würdevolles Aussehen wiedergefunden. Die unterwürfige Menge, die sich von dieser Geste provoziert fühlte, skandierte derweil: Hängt sie auf!
Schreiend fuhr ich aus dem Schlaf.
I ch verließ das Haus ohne Bedauern. Nach dem Tod der Stummen hätte ich es nicht ertragen, weiter dort zu leben. Ich schloss meine kleine Schwester in die Arme und sagte meiner Mutter und meinem Bruder Lebewohl. Mein Vater begleitete mich, er trug die Tasche, die meine Mutter gepackt hatte. Unterwegs sagte ich zu ihm: Du hast recht gehandelt, ich hätte selbst in dieses Eheabkommen eingewilligt, um die Steinigung der Stummen zu verhindern. Er machte den Mund nicht auf und lief wie eine aufgezogene Puppe neben mir her. Ich hatte beschlossen, noch am selben Tag zu fliehen, zog ihn aber nicht ins Vertrauen. Es ist besser, ihn nicht einzuweihen, dachte ich bei mir.
Wir durchquerten das Viertel. In einer breiten Straße blieb mein Vater bei der Nummer 28 vor einer braunen Metalltür stehen. Hier ist es, flüsterte er. Wir blieben zwei oder drei Minuten dort stehen, eine kleine Ewigkeit. Er legte mir die Hand auf die Schulter und bat mich mit verzweifelter Stimme um Verzeihung.
Ich reagierte nicht; er wiederholte: Verzeih mir, mein Kind. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, aber ich blieb wie versteinert stehen, seine Worte kamen so unerwartet, dass ich verstummte. Außerdem war ich von einer gewissen Gleichgültigkeit erfüllt, ich steckte nicht mehr in meinem Körper, sondern stand noch immer dort auf dem Platz vor dem baumelnden Leichnam der Stummen.
Mein Vater klingelte. Eine Frau im schwarzen Tschador öffnete die Tür und führte meinen Vater ins Büro des Mullahs. Es war seine zweite Frau; ich war Nummer drei. Mich geleitete sie in einen anderen Raum, dies war mein Schlafzimmer. Da kam mir ein Sprichwort in den Sinn: »Geh im weißen Brautkleid auf deinen beiden Beinen ins Haus deines Mannes und verlasse es nur liegend, ins Schweißtuch gehüllt.« An diesem Tag trug ich kein weißes Brautkleid, und ich hatte ja vor, noch am selben Tag zu fliehen. Bevor mein Vater ging, kam er noch einmal, um mich zu sehen. Er blieb auf der Schwelle des Schlafzimmers stehen, ohne einzutreten:
»Wenn du irgend etwas brauchst …«
»Es wird schon gehen, mach dir keine Sorgen.«
Dies war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Er starb zwei Wochen später. Meine Mutter fand ihn im Hof, eine Zigarette in der Hand; er hatte einen Herzinfarkt erlitten.
Am Nachmittag nahm ich meine Tasche und
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