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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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gestern eröffnet. Aber ein Kind mit einer anderen Frau, das wäre wie ein Verrat an Bérénice gewesen.
    Er wollte jedes Gespräch über Bérénice vermeiden, so schwieg er und drehte sich um. »Ich bin noch müde«, murmelte er. »Es wird bald hell, also lass uns noch ein wenig schlafen!«
    Marie-Luise antwortete nicht, auch sie wandte sich von ihm weg. Er hörte sie unruhig mit den Füßen gegen die Bettdecke scharren, bis es still wurde und ihr Atem sanft und regelmäßig ging.
    Als sie eingeschlafen war, stahl sich Hippolyte wieder leise aus dem Bett, stieg hastig in seine Hose und griff nach einem Pullover, den er sich überzog, während er bereits die Treppe hinunterlief. Unten schlüpfte er noch in Strümpfe und Schuhe. Als er seine dicke Steppjacke vom Haken nahm, stieß Tristan die angelehnte Küchentür von innen auf und stand schwanzwedelnd vor ihm.
    »Komm, Alter!« Zerstreut kraulte Hippolyte ihn kurz hinter dem Ohr und verließ mit ihm das Haus. Der Hund rannte voraus, kam zurück, leckte kurz Hippolytes Hand und verschwand wieder zwischen den Büschen des Gartens. Am Horizont wurde es heller. Über den Weinbergen hing noch der Frühnebel. Hippolyte schritt kräftig aus, er kannte jeden Meter hier, jeden Strauch, jeden Thymian- und Basilikumbusch, jeden Lorbeerbaum. Seine Mutter hatte den großen Garten den Hügel hinauf angelegt, und sein Vorgänger hatte nichts daran verändert. Es war alles so, wie die Natur es wachsen ließ, von der Hand seiner Mutter damals nur ein wenig geordnet, wie sie es genannt hatte. Kurz blieb er stehen und betrachtete den Mandelbaum, der in voller Blüte stand. Sein Vater hatte ihn gepflanzt, als Hippolyte acht Jahre alt gewesen war.
    Neben dem Anwesen führte der öffentliche Weg entlang, den Marie-Luise vor einem halben Jahr mit Tristan heruntergekommen war. Sie war zum richtigen Zeitpunkt in Hippolytes Leben getreten. Sie hatte ihm eine Heiterkeit, eine Leichtigkeit geschenkt, die er vorher nie gekannt hatte. Jetzt wollte sie eine feste Beziehung, aber wollte er das auch? Waren seine Gefühle stark genug?
    Hippolyte blieb stehen und pfiff zerstreut Tristan, der den Hügel heraufhechelte und folgsam hinter ihm hertrottete. Hippolyte blieb immer wieder stehen, um die klare Luft einzuatmen und den Nebelschwaden zuzusehen, die sich auflösten, während der Himmel sich rosa färbte. Oben ging Hippolyte zu dem Kreuz unter dem Mandelbaum. Hier hatte er im Herbst mit Bérénice gestanden, und Hand in Hand hatten sie ihres Sohnes gedacht, der nicht leben durfte. Endlich hatten sie über die Nacht des Unglücks vier Jahre zuvor gesprochen, endlich war er bereit gewesen, sich Bérénice zu öffnen. Doch was blieb, waren Leere und Enttäuschung, auch nach dem kurzen Wiedersehen im Januar unten auf dem Boule-Platz. Aber war er nicht selbst schuld? Er hatte sie einfach stehenlassen und war davongebraust.
    Langsam ließ sich Hippolyte auf einem Felsen nieder, den folgsamen Tristan zu seinen Füßen. Stille umfing ihn, und er wartete, bis sich die Schatten der Nacht zurückzogen und hinter den Bergen die Sonne aufstieg. In ihrem Licht breitete sich die Schönheit der Landschaft vor seinen Augen aus. Hippolyte hatte diesen Anblick so oft erlebt, und doch berührte er ihn jedes Mal aufs Neue. Einsamkeit umfing ihn, die er genoss und die ihm tiefen Frieden schenkte. Er gehörte hierher, hier waren seine Wurzeln, und hier war seine Heimat. Nirgendwo sonst konnte er leben und wollte es auch nicht mehr versuchen.
    Und doch … seine Gedanken waren beherrscht von Bérénice, er dachte an ihre Verletzlichkeit, an ihre rückhaltlose Hingabe an ihn während der Zeit ihrer Ehe, an das Schweigen zwischen ihnen in den Jahren in Paris. An diesem Wochenende auf dem Weingut hatte alles danach ausgesehen, als hätte sie ihm verziehen. Doch offenbar konnte sie es immer noch nicht, sonst hätte sie längst angerufen. Wütend schlug er mit der Faust auf den Stein, auf dem er saß, sprang auf und rannte den Hügel hinunter, rannte und stolperte, bis er keuchend stehen blieb und auf
La Maison Bleue
hinuntersah. Es war sein Weingut, und das erfüllte ihn mit Stolz. Doch ohne Bérénice erschien es ihm leer und sein Leben ohne Sinn.
    *
    Bis zum frühen Nachmittag gingen sie sich aus dem Weg, Hippolyte führte Telefonate mit seiner Bank, dann rief er Frank an, und schließlich sprach er noch mit dem Bauern Gaston. Er hörte oben im Schlafzimmer Marie-Luise hin und her laufen, doch sie kam nicht

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