Die Stunde der Schwestern
mich nicht informiert?«, wollte Bérénice wissen, der dieser Schock tief in die Knochen fuhr. Das Haus in der Rue Boursicault war ihr Zuhause gewesen, Denise und Fleur waren dort aufgewachsen.
Sie hatte nicht einmal gewusst, dass das Haus mit Hypotheken belastet war, geschweige denn, dass Denise die Zinsen schon längere Zeit nicht mehr zahlen konnte.
»Die Schulden werden durch die Versteigerung getilgt, in diesem Punkt kann ich Sie beruhigen«, erklärte der Filialleiter.
»Warum haben Sie mich nicht benachrichtigt, bevor Sie den Termin ansetzten?«
»Das Haus gehört Ihrer Mutter. So sahen wir keine Veranlassung dazu. Als ich bei ihr im Krankenhaus war, um die Sache zu besprechen, erwähnte sie mit keinem Wort, dass eventuell Sie …«
»Nein.« Bérénice reagierte heftig. »Nein, das ist allein Denise Aubrys Entscheidung, und ich will das Haus nicht, ganz sicher nicht.« Sie verabschiedete sich rasch und legte den Hörer auf.
Sie lehnte sich wieder in die Kissen zurück. Wenn jetzt das Telefon läutet, gehe ich nicht mehr ran, nahm sie sich vor. Doch es blieb stumm, und nach einer Weile stand sie auf. Sie wollte mit Denise sprechen und ein letztes Mal in das Haus in der Rue Boursicault gehen. Sie hatte sich spontan gegen die Rettung des Hauses ausgesprochen, aber war diese Entscheidung richtig gewesen?
Sie musste noch einmal in das Haus ihrer Kindheit.
[home]
19
Saint-Emile
V orsichtig, um Marie-Luise nicht zu wecken, stieß Hippolyte die schweren blauen Holzläden auf. Tief sog er die nächtliche Frühlingsluft ein, während er sich mit den Händen auf dem Fensterbrett abstützte und weit hinauslehnte. Er versuchte, so leise wie möglich zu sein, denn er wollte nicht, dass Marie-Luise aufwachte und ihm noch mal die Fragen stellte, mit denen sie ihn den ganzen Abend bedrängt hatte. Er wollte nicht nach seiner Vergangenheit gefragt werden und vor allem nicht nach Bérénice. Er war es nicht gewohnt, eigene Stimmungen zu beobachten und Gefühle zu analysieren, wie Marie-Luise es tat.
Was sollte er ihr über Bérénice erzählen? Es wäre ihm als Verrat erschienen, und so schwieg er, schwieg auch, da er mit Bérénice’ unergründlicher Weiblichkeit nicht zurechtkam. Nie mehr hatte sie sich gemeldet, und oft hatte er sich Vorwürfe gemacht, dass er sie am Boule-Platz damals so schnell verlassen hatte, um nach Hause zu Marie-Luise zu fahren. War es nicht wie eine Flucht gewesen?
Leise zog Hippolyte die Läden wieder zu, blieb aber unschlüssig stehen. Erst als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich rasch um. Marie-Luise stand, eingehüllt in ein Laken, am Bettpfosten und sah zu ihm herüber. Ihre Gestalt war im Dunkel kaum wahrzunehmen, nur der schwache Schein, der durch die Läden fiel, schien sich auf ihrem Oberkörper zu spiegeln. Ihre nackten Schultern, die langen Haare, alles übte einen Reiz auf ihn aus, so dass er auf sie zuging. Doch Marie-Luise wich zurück.
»Ich will endlich mit dir reden«, ihre Stimme klang verdrossen, während sie das Laken noch enger um ihren Körper schlang.
»Jetzt? Um diese Zeit?« Hippolyte reagierte unwillig. »Komm, lass uns zurück ins Bett gehen! Wir können morgen früh reden.«
»Morgen früh ist es vielleicht zu spät.«
Hippolyte bemühte sich um ein kleines Lachen, das die Situation auflockern sollte, doch es klang gekünstelt und verärgert.
Marie-Luise schlüpfte zurück ins Bett und zog das Laken bis zum Kinn. Hippolyte sah auf sie hinunter, dann hob er seine Decke und schob sich ins kalte Bett. Reglos lagen sie im Dunkel nebeneinander, bis er versuchte, die Spannung zwischen ihnen aufzulösen.
»Entschuldige«, erklärte er, »aber mir geht so vieles durch den Kopf. Frank bedrängt mich, einen weiteren Kredit aufzunehmen, um Bauer Gaston Leblanc die beiden Äcker abzukaufen, die sich meinen Weinbergen anschließen. Am Freitag sollen bereits die Traktoren anrücken, um die Felder zu pflügen, und am Montag darauf werden dann die Weinstöcke gesetzt, die Frank bestellt hat.«
»Und warum bedrückt dich das?«
»Weil ich mich noch mehr verschulde, darum.«
»Vielleicht kann dir ja deine Nochehefrau finanziell unter die Arme greifen.«
Hippolyte hörte Eifersucht und Aggression aus Marie-Luises Stimme heraus. Sie wollte ihn dazu bringen, seine Gefühle endlich zu offenbaren und eine Entscheidung zu treffen. Er fühlte sich in die Enge getrieben, Marie-Luise wollte mit ihm zusammenleben und ein Kind mit ihm haben. Das hatte sie ihm
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