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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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können, doch sie war es nicht. Sie sollte Denise verzeihen, doch sie konnte es nicht, jetzt, da sie die Wahrheit kannte. Sie sollte auch ihrem Vater verzeihen, der nicht gewollt hatte, dass sie geboren wurde, und jetzt den Kontakt zu ihr suchte, da er ein einsamer alter Mann war.
    Und Hippolyte hatte sie im vergangenen Herbst offenbar das Gefühl vermittelt, das gemeinsame Wochenende sei nur eine Reminiszenz an die Vergangenheit gewesen, und für einen Neuanfang sei es längst zu spät. Und das konnte sie sich selbst nicht verzeihen.
    *
    Am nächsten Morgen fühlte sie sich besser. Sie bereitete sich in der Küche Kaffee, röstete Toast und ging mit dem Tablett zurück ins Bett. Während sie das knusprige Weißbrot mit Butter bestrich, fiel ihr Blick rein zufällig auf die schöne Puppe auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster. Fleurs Geschenk an sie. Hätte sie als Kind damit gespielt?
    Sie erinnerte sich, wie sehr Denise es immer bedauert hatte, dass sie im Gegensatz zu ihren Schulfreundinnen nie mit Puppen spielen wollte. In Erinnerung daran lächelte Bérénice. Die Freundinnen waren so oft zu ihr gekommen, doch nicht, um sie, sondern um Denise zu besuchen. Die kleinen Mädchen liebten sie, und Denise lud sie oft ein.
    Sie hatten es
les fêtes des poupées
genannt, kleine Feste für ihre Puppen. Denise hatte vorher einen großen Kuchen gekauft, und dann ging es los. Die Mädchen brachten ihre »Kinder« mit und durften sich in den vielen Schachteln Knöpfe, Spitzen und Bordüren aussuchen und die Stoffe bestimmen, aus denen sie Kleider für ihre Puppen haben wollten. Und Denise ließ sie gewähren. Die Mädchen wühlten und warfen alles durcheinander, wenn sie aufgeregt ihre Auswahl trafen. Denise aber lachte nur dazu. An diesen Nachmittagen war sie glücklich gewesen, sie saß inmitten der vielen Mädchen, und sie nähte für alle Puppenkleider.
    Nachdenklich legte Bérénice ihren Toast auf den Teller. Wie hatte sie diese
fêtes
nur vergessen können?
    Und die Busreise von Marseille nach Paris, als sie elf Jahre alt gewesen war? Sie hatten in einem guten Hotel übernachtet, sich die Gemälde im Louvre angesehen und waren nach Versailles hinausgefahren. Das hatte alles viel Geld gekostet, das sich Denise in zusätzlicher Nachtarbeit verdienen musste. Wieso hatte sie diese schönen Erinnerungen verdrängt? Wieso hatte sie in den vergangenen Monaten nur an Denise’ Lügen gedacht? Wie konnte sie so herzlos sein? Denn eines war klar: Denise hatte sie geliebt, und um ihr eine schöne Kindheit zu ermöglichen, hatte sie Tag und Nacht geschuftet.
    Seit ein paar Tagen war Bérénice eine wohlhabende Frau. Sie konnte sich eine schöne Wohnung mieten, Reisen machen, sie konnte sich viele Dinge kaufen, aber sie konnte auch eines tun: Denise einen komfortablen Lebensabend finanzieren.
    Bérénice lehnte sich in den Kissen zurück und schloss die Augen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder ruhig und zufrieden.
    *
    Am Nachmittag rief sie Dr. Passot an und teilte ihm mit, dass sie ihr Einverständnis für den Umzug von Denise Aubry in die Seniorenresidenz gebe und alle Kosten wie Miete, Kaution und weitere Behandlungen übernehme. Das Wort Mutter brachte sie nicht über die Lippen.
    »Sobald ich nach Saint-Emile komme, unterschreibe ich den Vertrag. Ich bin aber noch nicht ganz gesund«, setzte sie hinzu. Sie wusste, einem Treffen mit Denise war sie nicht gewachsen, sie brauchte noch Zeit.
    Doch ihre bloße Zusage reichte dem Arzt nicht. »Es eilt, sonst ist das Appartement vergeben, und die Wartezeiten für die Residenz sind sehr lang. Eigentlich war der Umzug für übermorgen geplant. Vor ein paar Tagen war Ihre Mutter mit einem Pfleger in ihrem Haus und hat ausgesucht, was direkt in die Seniorenresidenz geschickt werden sollte. Alles andere, auch die Möbel, kommt in einen Container, bevor Ende der Woche die Versteigerung über die Bühne geht.«
    »Welche Versteigerung?« Bérénice horchte alarmiert auf.
    Dr. Passot zeigte sich überrascht. »Ich dachte, die Bank Ihrer Mutter hätte Sie informiert. Aber das sind Dinge, die mich als Arzt nichts angehen, ich habe sie nur durch unsere Verwaltung erfahren.«
    Bérénice beendete sofort das Gespräch und rief bei der Bank an. Doch es dauerte eine Weile, bis sie endlich den Filialleiter ans Telefon bekam. Von ihm erfuhr sie, dass Denise schon seit Jahren hoch verschuldet war und die Bank nun die Zwangsversteigerung angeordnet hatte.
    »Warum haben Sie

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