Die Stunde der Schwestern
Gefühl von Angst und panischem Entsetzen.
*
Ende Oktober 2001
Saint-Emile
Denise verbarg sich hinter dem Stamm der Platane und sah über den kleinen Platz hinüber zur Kirche. Die Tür öffnete sich, und die Leute verließen das Gotteshaus. Der Pfarrer hatte eine kleine Abendmesse für die Bauern und Weingutsbesitzer gehalten, einen Dankesgottesdienst für die gute Traubenernte. Weder Mistral noch Dauerregen oder sonst eine Katastrophe hatte die Ernte behindert und die Trauben ruiniert. Denise wartete und sah sich die Leute genau an, doch Hippolyte war nicht unter ihnen. Tiefe Enttäuschung ergriff sie. In den vergangenen Tagen hatte sie sich die Szene oft ausgemalt: Sie würde auf ihren Schwiegersohn zugehen, vor ihm stehen bleiben und ihm ins Gewissen reden. Schließlich sei er verheiratet, und so solle er sich auch verhalten. Denise war es egal, was er oben auf seinem Weingut trieb. Doch im Ort vor allen Leuten mit diesem Flittchen herummachen – diese Demütigung durfte er Bérénice, ihrem Kind, nicht antun.
Die Kirchenbesucher hatten sich jetzt zerstreut, die meisten waren in ihre Autos gestiegen und losgefahren, einige jedoch bogen unter lauten Zurufen in die kleine Gasse neben dem Rathaus ein.
»Um sich im Cochon d’Or volllaufen zu lassen.« Verächtlich schnaubte Denise durch die Nase. Sie blickte sich um. Vielleicht tauchte Hippolyte ja doch noch auf. Aber der Platz blieb leer, und so hinkte sie auf die offene Kirchentür zu.
Am Altar brannten noch die Kerzen in den hohen Leuchtern, daneben standen kleine Kisten, gefüllt mit Trauben als Gaben der Weinbauern.
Denise blieb stehen und starrte auf das große hölzerne Kreuz. Lange war sie nicht mehr hier gewesen.
Nur nicht daran denken, nie mehr! Die Vergangenheit ist vergessen, kann nicht mehr gutgemacht werden, nie mehr, nie mehr. Vergessen der Tag ihrer Hochzeit. Vergeben alle Schuld?
Nein, niemals. Es gab kein Vergessen, und es gab kein Vergeben. Niemals.
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4
Mai 1957
Saint-Emile
A n einem wolkenlosen Tag im Mai heirateten Denise Déschartes und der ältliche Apotheker Etienne Aubry. Schweigend nahmen die wenigen Gäste in der hohen, dunklen Kirche von Saint-Emile Platz und warteten, bis die Braut am Arm ihres Onkels dem Bräutigam entgegenschritt, der sie mit blassem, verzerrtem Gesicht erwartete. Jeder wusste, dass Etienne hoffnungslos in Denise’ schöne Schwester Fleur verliebt gewesen war, doch diese hatte ihn abgewiesen. Die ganze Stadt tuschelte über den Grund für die überstürzte Heirat, und jeder ahnte, dass Etienne Denise aus seinem tiefen Gefühl für Anstand und Pflicht heraus heiratete. Neugierige Blicke folgten der Braut auf ihrem Weg zum Altar, und keinem blieb die sanfte Rundung unter ihrem weißen Kleid verborgen, auch wenn sich Denise krampfhaft den Strauß Maiglöckchen vor die Taille hielt.
Gerade noch rechtzeitig kam Fleur und drückte sich hastig in die letzte Bank, ihren kleinen Koffer stellte sie neben sich. Direkt nach der Trauung wollte sie Saint-Emile verlassen und mit dem Mittagszug nach Paris fahren, um an einer renommierten Sprachenschule zu studieren. Das zumindest war die Version, die ihre Mutter Joselle kannte und den neugierigen Kundinnen ihrer Schneiderei erzählte.
Im Anschluss an die Trauung wurde auf der Treppe der Kirche ein Foto gemacht, dabei stand Fleur mit ihrem Koffer links neben dem Bräutigam, während Denise zu seiner Rechten vergeblich Etiennes Blick suchte. Anschließend gingen die Gäste gut gelaunt in das beste Restaurant der Stadt, um ein üppiges Menü zu genießen. Fleur hatte sich zuvor verabschiedet. Ein leichter Wind wehte von den Weinbergen herunter, als sie in Begleitung ihrer Mutter durch die stille Straße zum Bahnhof von Saint-Emile ging.
»Die Wolken verändern sich«, sagte Joselle. »Sie künden den Mistral an. Schau hinauf!« Ihre Tochter warf nur einen flüchtigen Blick nach oben, sie spürte, dass ihre Mutter den Abschiedsschmerz hinter einem unverfänglichen Gespräch verbergen wollte. Tröstend hängte sie sich bei Joselle ein, und schweigend bogen sie in die Allee mit den alten Platanen ein, die schnurgerade auf die Gare Saint-Emile zuführte. Erst als sie bereits zwischen lärmenden Menschen auf dem Bahnsteig standen, brach Joselle das Schweigen.
»Warum Paris?«, klagte sie. »Glaubst du wirklich, Tante Babette hat dir das Geld vererbt, um Sprachen zu studieren? Und warum Deutsch?«
Fleurs Interesse an der deutschen Sprache hatte nur einen Grund: Alle
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