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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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auflauerte. Es war schon fast eine Besessenheit. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie du es geschafft hast, dass er sich mit dir eingelassen hat. Also sei zufrieden! Du hast bekommen, was du gewollt hast.«
    Denise erwiderte nichts. Mit großen Augen und aufgerissenem Mund starrte sie ihre Mutter an. Joselle wurde schlagartig klar, dass sie zu weit gegangen war. So hart war sie ihrer Tochter gegenüber noch nie gewesen. Diese Dinge hätte sie Denise nicht sagen dürfen. Was war nur in sie gefahren?
    Sie ging um das Bügelbrett herum, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich dicht neben Denise und griff nach ihrer Hand.
    »Es tut mir leid, entschuldige, ich hab das alles nicht so gemeint. Ich liebe dich, und zwar genauso, wie ich Fleur liebe. Fleur ist gegangen, aber du bist hier.«
    Joselle wollte Denise in den Arm nehmen, doch Denise wich ihr mit einer geschickten Drehung des Oberkörpers aus.
    »So also siehst du mich«, stammelte sie fassungslos. Doch da spürte sie wieder den Schmerz im Rücken, spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und ihr schwindlig wurde. Tief atmete sie durch und hörte Joselle nicht mehr zu, die sich erhoben hatte.
    »Es tut mir so leid, Denise,
ma petite,
ich wollte dich nicht aufregen. Aber du bist erwachsen, du musst die Konsequenzen deiner Handlungen selbst tragen. Du kannst dich nicht aufführen wie ein kleines ungezogenes Kind. Immer soll man dich bemitleiden. Da hat Etiennes Mutter nicht so unrecht, wenn sie …«
    »O nein!«
    Denise’ Schrei ließ Joselle verstummen, und mit Entsetzen sah sie, wie ihre Tochter sich vor Schmerzen krümmte und ihre Hände verzweifelt auf den Unterleib presste.
    »Blut, du blutest, mein Gott, Denise, das Kind!«
    Denise wurde schwarz vor Augen, schmerzgekrümmt rutschte sie von ihrem Schemel herunter und hielt sich stöhnend am Bügelbrett fest, so dass es umstürzte und sie ins Leere griff. Sie spürte das Blut, das ihr warm die Beine hinunterlief und durch ihr weißes Batistkleid drang. Wieder zerriss ein Schmerz ihren Körper, wieder schrie sie auf, und ihre Stimme vermischte sich mit dem lauten Klagen ihrer Mutter. Dann sank Denise auf den Boden und verlor das Bewusstsein.

[home]
    6
    Juli 1957
Paris
    F lirrende Julihitze lag über Paris.
    Vor der Bar des Théâtres in der Avenue Montaigne stauten sich die Autos auf dem Gehsteig, und innen drängelten sich Modejournalisten und Fotografen aus der ganzen Welt.
    Die großen Schauen der Haute-Couture-Häuser standen bevor, und alles drehte sich um Mode und Designer. Diors Stern verblasste, er war zudem schwer herzkrank, und man erwartete von ihm nichts Außergewöhnliches mehr. Man war gespannt, was Givenchy, Balenciaga und die anderen zeigen würden. Zwischen den Journalisten standen blasse, dünne Mädchen in schwarzen Wickelkleidern, in die sie zwischen den Anproben schlüpften und die sie schnell wieder ausziehen konnten. Sie tranken erschöpft ihren
café noir,
bevor sie zurück in die umliegenden Modehäuser hasteten, wo die Anproben meist bis spät in die Nacht hinein dauerten. Von Coco Chanel wusste man, dass sie keine Skizzen machte, niemals ein Kleid auf dem Papier entwarf, sondern an den Mädchen selbst ausprobierte, vor ihnen auf dem Boden herumrutschte, Falten steckte, Säume hob und senkte, Stoffe über die Mädchen warf, als seien sie Puppen.
    Und mitten in dieser aufgeheizten Atmosphäre stand Fleur an der kleinen Theke der Bar. Unter den Leuten, die dazugehörten, empfand sie schmerzhaft ihre eigenen Misserfolge der vergangenen zwei Monate. An der Modeschule hatte man sie nicht einmal zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Und ihre Bewerbungen und die Vorstellungsgespräche bei den großen Couture-Häusern hatten ihr nur Absagen eingebracht. Am Tag zuvor hatte ein Assistent von Pierre Balmain ihr erklärt, seine Zeit sei zu kostbar, um sie mit untalentierten Mädchen aus der Provinz zu vergeuden.
    Fleur sah sich in dem lauten Gedränge um, während sie auf Maxime Malraux wartete. Sie trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken, denn eine zweite Tasse konnte sie sich nicht leisten, und den Platz direkt an der Theke wollte sie nicht aufgeben. Andere drängelten nach, riefen über ihren Kopf hinweg dem Barkeeper ihre Wünsche zu und stießen sie dabei zur Seite. Fleur holte den Brief ihrer Mutter aus der Tasche und gab vor, konzentriert zu lesen, um nichts mehr bestellen zu müssen. Er war am Morgen mit der Post gekommen, doch sie hatte ihn erst jetzt geöffnet.
     
    Liebe Fleur,
    es freut

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