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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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mich, dass es Dir in Paris so gutgeht und Du in der Schule vorankommst. Ich freue mich auch für Dich, dass Du eine schöne Wohnung gefunden hast, die Du mit einer netten Freundin teilst. Obwohl ich dagegen war, dass Du nach Paris gehst, bin ich jetzt beruhigt und auch sehr stolz auf Dich.
    Bei uns ist etwas sehr Schlimmes passiert: Deine Schwester hat eine Fehlgeburt erlitten. Sie war im sechsten Monat schwanger, und es wäre ein Sohn geworden. Es war furchtbar für sie. Sie ist vor meinen Augen hier in der Schneiderei zusammengebrochen, und obwohl sie sofort ins Krankenhaus gebracht wurde, kam jede Hilfe zu spät. Ihr ging es am Vormittag schon sehr schlecht, vielleicht hätte man ihr helfen können, wenn sie gleich den Arzt gerufen hätte. Aber das weiß man nicht.
    Denise ist verzweifelt. Sie hat Angst vor einer Scheidung und glaubt sogar, Etienne wolle die Ehe annullieren lassen. Das ist natürlich alles Unsinn und findet nur im Kopf Deiner Schwester statt. Trotz der Fehlgeburt kann sie wieder schwanger werden.
    Denise ist sehr in sich gekehrt, redet kaum und muss sich ständig von ihrer Schwiegermutter herumkommandieren lassen, angeblich, um Haushaltsführung und gutes Kochen zu lernen. Als ob ich das meinen Töchtern nicht beigebracht hätte!
     
    An dieser Stelle musste Fleur lächeln, weil sie an Joselles chaotischen Haushalt dachte. Zu essen hatte es meist Suppe und dazu Baguette gegeben, einmal in der Woche ein kaltes gebratenes Huhn vom Markt oder einfach nur Salat mit einem Dressing ohne Geschmack.
     
    Also, mein Kind, lerne weiter so fleißig, damit Du eine gute Stelle bekommst und Dein eigenes Geld verdienen kannst! Dann bist Du unabhängig von den Männern. In letzter Zeit, wenn ich mir Deine blasse Schwester ansehe, denke ich, nein, ich weiß es, das ist das Allerbeste.
    In Liebe
    Deine Mutter
     
    Nachdenklich strich Fleur über die Seiten des Briefes. Für Denise empfand sie tiefstes Mitleid. Joselle machte sich Sorgen um ihre beiden Töchter, das konnte Fleur aus den Zeilen herauslesen, und tiefe Scham ergriff sie, als sie an die Lügengeschichte dachte, die sie ihrer Mutter aufgetischt hatte. Meist schwänzte sie den Deutschkurs, und da sie selten Hausaufgaben machte, kam sie im Unterricht nicht mehr mit. Ihre angeblich so schöne Wohnung bestand aus einem kleinen Zimmer im vierten Stock eines alten Mietshauses, direkt unter dem steil abfallenden Dach, in dessen dunkler Nische ihr Bett stand.
    Manchmal stellte sich Fleur auf einen der beiden Stühle, um durch das schräge Fenster über die Dächer von Paris zu blicken. Dem Bett gegenüber befand sich eine Kochnische, die Fleur so gut wie nie benutzte, und direkt daneben führte eine Tür ins Bad, das die Verbindung zum zweiten Zimmer darstellte. Auf der anderen Seite in einem größeren Raum wohnte Maxime Malraux. Er war die »Freundin«, von der Fleur ihrer Mutter geschrieben hatte. Malraux interessierte sich nicht für Frauen, aber wusste Joselle überhaupt etwas über Homosexualität? Fleur war sich in diesem Punkt nicht sicher, also hatte sie zu einer Notlüge gegriffen, um Konflikte zu vermeiden.
    Maxime war sechs Jahre älter als sie und arbeitete als freiberuflicher Modezeichner für große Couture-Häuser. Er hatte eine Ausbildung an der Modeschule, der Chambre Syndicale de la Haute Couture, mit Auszeichnung abgeschlossen. Sein großer Traum war, Assistent von Christian Dior zu werden, dessen Mythos er verfallen war, auch wenn man Dior gerade vom Thron stieß. Vor kurzem war vom Haus Dior ein persönlicher Assistent für den herzkranken Modeschöpfer eingestellt worden, ein schüchterner junger Mann, gerade mal zwanzig Jahre alt. Sein Name war Yves Saint-Laurent.
    »Wer soll
das
denn sein?«, hatte Maxime gelästert, bevor er sich tagelang in seinem Zimmer einschloss.
    Fleur hatte den begabten Designer in der Bar des Théâtres kennengelernt, als sie noch in einem Mädchenwohnheim lebte und sich oft stundenlang hier aufhielt, um den »Duft der großen Modewelt« einzuatmen, wie Maxime es spöttisch formulierte. Er hatte neben ihr an der Theke gestanden, während sie die Wohnungsanzeigen studierte. Sein Freund hatte ihn vor einigen Tagen verlassen, und jetzt brauchte er ganz schnell eine Untermieterin.
    »Hättest du Lust, bei mir einzuziehen, meine kleine Provinzlerin?«
    Er hatte sie geduzt und mit seiner lässigen Pariser Art eingeschüchtert. Doch bereits am nächsten Tag hatte sie das kleine Dachzimmer übernommen.
    Später wollte

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