Die Stunde der Schwestern
geschrieben?
»Denise … Denise«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Du führst jetzt das Leben, das du gewollt hast. Und du bist jung. Es wird eine neue Schwangerschaft geben, ein anderes Kind.« Sollte sie ihrer Schwester schreiben? Denise zeigen, wie sehr sie an ihrem Schicksal teilnahm?
Als ihr Vater vor zehn Jahren die Familie verließ, waren sie zwölf und zehn Jahre alt gewesen. Nachts, wenn ihre Mutter in der Schneiderei noch nähte, kuschelten sie sich im Bett aneinander, erzählten sich Geschichten und naschten Süßigkeiten, die sie sich heimlich von ihrem Taschengeld gekauft hatten.
Sie hatten eine gute Kindheit gehabt, eine schöne, sorglose Zeit, nicht zuletzt weil Joselle ihre Töchter niemals spüren ließ, wie hart sie das Geld verdiente.
Irgendwann aber hatte Fleur den Neid ihrer älteren Schwester gespürt, auch deren Hass auf das Elternhaus, auf die Ärmlichkeit, in der sie lebten. Denise wollte raus aus diesem Milieu, aufsteigen in die Gesellschaft. Das hatte sie erreicht. Warum verhielt sie sich immer noch so ablehnend?
Ich werde Denise schreiben, nahm sich Fleur fest vor und steckte den Brief ihrer Mutter in das Kuvert zurück. Sie ist doch meine Schwester, sie soll wissen, dass ich sie immer noch liebe.
Fleur hob den Kopf und lauschte auf die Geräusche im Badezimmer, das Maxime von der anderen Seite aus betreten hatte, um leise an ihre Tür zu klopfen. Nach Fleurs mürrischem »Komm rein!« betrat er ihr Zimmer, blieb aber an der offenen Tür stehen. Er trug einen schmal geschnittenen grauen Anzug von Pierre Cardin, einem angesagten Designer. Fleur schämte sich ein wenig, denn sie trug nur Shorts und eine weiße Bluse, die sie aus dem hintersten Winkel ihres Schrankes gezogen hatte und die völlig zerknittert war.
»Wo warst du gestern? Ich habe zwei Stunden in der Bar auf dich gewartet.«
Maxime überging ihren Vorwurf, trat näher und ließ sich auf Fleurs Bett nieder. Elegant schlug er die Beine übereinander und umfasste seine Knie mit beiden Händen. »Finanzielle Probleme?«
»Nein, wieso denn? Mir geht es glänzend«, spottete Fleur. »Ich lebe im Luxus und weiß nicht, wohin mit meinem Geld.«
»Da komme ich gerade richtig«, erklärte Maxime. »Es tut mir ja so leid, dass ich gestern nicht da war, meine kleine Provinzlerin, aber ich mache es wieder gut. Versprochen. Ich habe mich mit meiner neuen Liebe getroffen. Heimlich«, betonte er, um Fleurs Interesse zu wecken. Doch sie reagierte nicht. Wie jedes Mal war sie verärgert über Maximes Anrede. Das wusste er, und das amüsierte ihn.
»Ich habe mich in Albert de Montherlant verliebt«, erzählte er weiter und machte eine wirkungsvolle Pause. »Du weißt schon,
die
Montherlants«, fügte er hinzu, als Fleur immer noch keine Reaktion zeigte. »Albert ist Anwalt und hat sich erst vor kurzem von seiner Frau getrennt. Scheidung soll folgen. Albert war immer ein Hetero, ein unglücklicher Hetero, und nun hat er sich in mich verliebt. Hörst du mir jetzt bitte zu?« Gereizt hob Maxime seine Stimme, weil Fleur weiterhin auf ihren Notizblock starrte. »Das betrifft nämlich auch dich«, sagte er.
Fleur erschrak. »Mich? Wieso? Willst du ausziehen und mich auf der vollen Miete sitzenlassen?«
»Nein«, beruhigte sie Maxime. »Aber es gibt ein Problem. Albert will sich nicht zu seiner Neigung bekennen. Das könne ihm beruflich schaden. Auch seine halbwüchsigen Söhne sollen nicht damit konfrontiert werden. Noch nicht.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Albert will dir einen Vorschlag machen, einen lukrativen Vorschlag.«
Fleurs Neugierde war geweckt. »Und der wäre?«
»Du sollst für einige Zeit seine Geliebte spielen. Du bekommst Geld dafür, und er kauft dir bei Chanel ein paar schöne Kleider. Du zeigst dich mit ihm in Restaurants, im Herbst in der Oper, auf Vernissagen und bei anderen Veranstaltungen.«
»Und ich muss sonst nichts dafür tun?«
»Schätzchen, er hat wirklich kein Interesse an dir. Du sollst die Geliebte nur
spielen,
verstehst du? Es soll so aussehen, als habe Albert nach der Trennung von seiner Frau eine schöne junge Geliebte. Ein Ablenkungsmanöver. Allerdings musst du einen Vertrag unterschreiben, dass du absolutes Stillschweigen bewahrst.« Maxime sah sie unsicher an.
Langsam klappte Fleur ihren Notizblock zu. Sie dachte an ihre Mutter Joselle, die sicher entsetzt sein würde, wenn sie erfuhr, dass Fleur eine Affäre mit einem verheirateten Mann hatte, auch wenn er getrennt von seiner Frau
Weitere Kostenlose Bücher