Die Stunde der Schwestern
sie wissen, wieso er gerade ihr das Angebot gemacht habe. Und Maxime erklärte: »Du hast das gewisse Etwas, du gehörst in die Modeszene, meine kleine Provinzlerin.«
In Gedanken versunken, legte Fleur jetzt den Brief auf die Theke und strich mit dem Zeigefinger zärtlich über die handgeschriebenen Zeilen ihrer Mutter. Da wurde sie unsanft gestoßen, und schwarzer Kaffee ergoss sich über Joselles Brief. Heftig fuhr Fleur zu dem Mann herum, der sie gestoßen hatte. Er war nicht groß, trug eine dunkle Sonnenbrille, die seine Augen verbarg, doch Fleur spürte den intensiven Blick, mit dem er sie ansah, bevor er sich entschuldigte.
»Es tut mir leid, aber das war eine Kettenreaktion. Ich wurde von hinten angerempelt, und da flog ich gegen Sie. Was ich nicht bereue.« Er lächelte, nahm aber die Brille nicht ab.
Fleur nickte ihm schlecht gelaunt zu und versuchte, mit einer Serviette den Kaffee abzuwischen.
»Mein Name ist Georges Bonnet«, hörte sie die Stimme des Mannes nahe an ihrem Ohr.
»Wie schön für Sie«, antwortete sie spöttisch.
Der Mann lachte amüsiert, bevor er die Gegenfrage stellte: »Und wie heißen Sie?«
»Fleur. Fleur Déschartes«, antwortete sie, ärgerte sich aber sofort über ihre bereitwillige Antwort.
Georges Bonnet griff in die Brusttasche seiner weißen Leinenjacke und legte eine Visitenkarte auf den fleckigen Brief. »Nun, Fleur Déschartes«, wiederholte er ihren Namen, »rufen Sie mich an! Sie haben das Zeug zu einem guten Model. Ich werde Fotos von Ihnen machen. Aber erst, wenn der Trubel der nächsten Wochen vorbei ist, sagen wir Anfang September.« Jetzt schob er seine Sonnenbrille auf die Stirn und beugte sich zu Fleur, um sie flüchtig auf die Wange zu küssen. Sie jedoch wich ihm geschickt aus, und er lachte wieder, nickte ihr gut gelaunt zu und bahnte sich einen Weg zum Ausgang. Fleur entging nicht, dass ihm die Mädchen nachsahen, ihm ein
»Salut, Georges«
zuriefen,
»à bientôt!«.
Alle schienen ihn zu kennen. Bevor er die Bar verließ, signalisierte er Fleur durch ein Zeichen mit der Hand, ihn anzurufen. Fleur reagierte nur mit einem kleinen Achselzucken, bevor sie den nassen, verfärbten Brief vorsichtig in die Tasche steckte. Das Café leerte sich, die Mittagspause in den Couture-Häusern war vorbei, die Mannequins liefen über die Straße und zerstreuten sich. Auch die Journalisten waren gegangen, sicher um in ihren Redaktionen oder Hotels nachzusehen, ob ihre begehrten Akkreditierungen für die großen Schauen eingetroffen waren. Diese Einladungen und die Sitzordnung zu den Shows wurden jede Saison neu verteilt, hatte Maxime Fleur erzählt. Sie wartete noch einige Minuten auf ihn, dann verließ auch sie die Bar, verärgert darüber, dass er sie versetzt hatte.
Draußen warf Fleur noch einen flüchtigen Blick auf die Visitenkarte. Sie kannte den Namen Georges Bonnet nicht, er gehörte nicht zu den großen Modefotografen wie Richard Avedon oder Irving Penn. Sicher war er nur ein Angeber, der mit jedem Mädchen schlief. Nicht umsonst kannten ihn alle. Achtlos warf Fleur die Visitenkarte auf die Straße und machte sich auf den Heimweg.
Sie ging bis zum Rond Point, dann überquerte sie die Champs-Elysées und blieb in der Mitte auf einer Verkehrsinsel stehen. Sie sah hoch zum Arc de Triomphe, verhangen im Dunst des heißen Sommertags.
Genau an diesem Ort, umgeben vom brausenden Verkehr dieser Stadt und mit dem Blick auf den Arc de Triomphe, fühlte sie sich glücklich. Denn hier, genau hier, war Paris,
ihr
Paris.
*
Die Sonne ging unter und verlor an Kraft, doch in der Dachwohnung wurde es noch heißer und stickiger. Fleur saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, einen Block auf den Knien, und rechnete. Mit dem kleinen Erbe ihrer Tante Babette konnte sie noch einige Monate finanziell überleben, aber was kam dann? Sie zahlte Schulgeld, obwohl sie selten am Unterricht teilnahm. Die täglichen Kosten und die Miete überstiegen den Etat, den sie sich in Saint-Emile ausgerechnet hatte. Zudem war sie überzeugt gewesen, ein Stipendium an der Modeschule zu bekommen. Ratlos fing sie nun an, kleine Püppchen neben die Zahlen zu zeichnen, Entwürfe, wie sie sich die Mode für den Herbst vorstellte.
Dann holte sie den Brief ihrer Mutter hervor. Sie hatte ihn getrocknet, doch die Schrift auf der zweiten Seite war unleserlich geworden. Nachdenklich strich sie darüber. Sie empfand tiefes Mitleid mit ihrer Schwester. Wieso aber hatte Denise ihr nicht selbst
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