Die Stunde der Schwestern
Etiennes Verhalten, als er sie im Herbst vor der offenen Schublade überrascht hatte, beschäftigte Denise in vielen schlaflosen Nächten. Wenn sie dann die Augen schloss, sah sie ihn vor sich: das verzerrte Gesicht, den flackernden Blick. Die Erinnerung daran ließ sie nicht mehr los. Drei Tage vor Weihnachten, als Etienne an der letzten Stadtratssitzung des Jahres teilnahm, schlich sie sich in die Apotheke. Sie bezwang ihre Angst, und ihre Neugierde siegte. Hatte Etienne neue Fotos von Fleur gesammelt? Oder hatte er seine heimliche Leidenschaft aufgegeben? Doch die Schublade war verschlossen und der Schlüssel abgezogen.
*
Frühjahr 1958
Paris
Fleur blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie hetzte von Termin zu Termin. Georges bestimmte ihr Leben. Er ließ für sie eine spezielle Diät zusammenstellen und engagierte einen Tanzlehrer, mit dem sie täglich arbeiten musste. Fotografierten sie den ganzen Tag, arbeitete sie nachts mit ihrem Trainer.
Im Februar machte George mit ihr eine ganze Fotokampagne für die amerikanische und die französische Ausgabe der
Vogue
mit der Überschrift:
Eine Hommage an Paris und seine Haute Couture.
Fleur arbeitete bis zur Erschöpfung und ging dabei weit über die Grenze ihrer Belastbarkeit. Sie fror erbärmlich, und das ständige Hungergefühl schwächte sie so sehr, dass Georges schließlich anfing, ihr Vitamintabletten und Aufputschmittel zu geben. Sie versetzten Fleur in einen angenehmen, fast euphorischen Zustand, und plötzlich konnte sie arbeiten, ohne müde zu werden. Sie war lustig, aufgekratzt, und es fiel ihr leicht, in jede Pose zu fallen, die Georges von ihr verlangte. Sie nahm sich selbst nicht mehr wahr, sie ließ sich schminken, stylen und frisieren, sie posierte vor der Kamera, lächelte, hetzte von Termin zu Termin. Ihre Karriere war nicht mehr aufzuhalten.
*
Saint-Emile
Reglos lag Denise in ihrem Bett und starrte durch das offene Fenster hinaus in einen warmen Frühlingsabend.
Vor einer Woche war sie mit dem Krankenwagen hierher in die Frauenklinik gebracht worden, doch es war zu spät gewesen.
Jeden Vormittag kam Joselle, um ihre Tochter zu trösten und ihr über die zweite Fehlgeburt hinwegzuhelfen.
»Du hast das Kind verloren, Denise, aber das ist nicht der Weltuntergang«, sagte sie beim ersten Besuch. »Du bist jung und gesund. Das nächste Mal wirst du es austragen können, ganz sicher.«
Doch Denise drehte ihr nur den Rücken zu und schwieg, bis ihre Mutter auf Zehenspitzen das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich zuzog. Denise verweigerte sich jedem und redete mit niemandem, kein Arzt, keine Schwester konnte sie dazu bewegen, ein Wort zu sagen. Sie verharrte in Sprachlosigkeit. So musste sie auch nicht preisgeben, was der Chefarzt ihr gesagt hatte: Seiner Ansicht nach werde sie nie ein Kind austragen können.
*
Auf dem Gang der Geburtenstation war es ruhig geworden. Die schnellen Schritte, das Lachen, die Unterhaltungen der jungen Väter und Verwandten waren verklungen, die Besuchszeit war vorbei.
Denise stahl sich leise aus ihrem Zimmer, ging die Treppe hoch und blieb vor dem Fenster stehen, hinter dem die Neugeborenen in ihren kleinen Betten lagen. Sie presste ihre Handflächen gegen die Scheibe und stand reglos davor, bis einige der Babys zu schreien anfingen. Sie hatten Hunger, und Denise wusste, gleich würde man sie ihren Müttern zum Stillen bringen. Neben ihr stand eine ältere Frau. Sie winkte der Schwester in dem Raum zu und sprach dann Denise an:
»Welches ist Ihr Baby? Ist es ein Sohn oder ein Töchterchen?«
»Ein Mädchen«, flüsterte Denise, »ein kleines Mädchen.« Dann drehte sie sich um, rannte die Treppe hinunter und zurück in ihr Zimmer. Sie verkroch sich in den Kissen und wusste nur eines: Sie hatte dieses Kind so sehr gewollt, nicht für Etienne, nicht für ihre Ehe, nur für sich selbst. Ein Kind hätte ihrem Leben einen Sinn gegeben und ihr geholfen, die Tage an Etiennes Seite in ihrer freudlosen Belanglosigkeit zu ertragen.
*
[home]
9
Zwei Jahre später
April 1960
Paris
D er Regen hatte am Abend eingesetzt, das Wetter wurde schlecht, die Luft war kalt, und über dem Innenhof des Ateliers lag ein grauer Nebel wie im November. Georges hatte es sich in den Kopf gesetzt, in diesem trostlosen Umfeld Aufnahmen zu machen. Fleur in einem teuren Chiffonkleid vor den Mülltonnen, die Georges als malerisch bezeichnete.
Seit einigen Monaten bereits herrschte eine gespannte Atmosphäre. Fleur konnte nicht mehr.
Weitere Kostenlose Bücher